Mitternachtsfalken: Roman
Wichtigste aber war: Sein Studienplatz war ihm sicher. Er würde bei Niels Bohr Physik studieren – vorausgesetzt, er blieb so lange am Leben.
Während der beiden Tage an der Schule erfuhr Harald von Mads Kirke, dass Poul nicht bei einem normalen Flugunfall gestorben war. Die Armee weigerte sich mit dem Hinweis, die Untersuchungen seien noch nicht abgeschlossen, nähere Einzelheiten preiszugeben. Andere Piloten hatten dagegen der Familie mitgeteilt, dass zum Zeitpunkt des Absturzes Polizisten auf dem Stützpunkt gewesen und Schüsse gefallen seien. Harald war sich sicher, dass Poul wegen seiner Tätigkeit im dänischen Widerstand umgebracht worden war, erwähnte es Mads gegenüber aber mit keinem Wort.
Auf der Heimfahrt nach Sande war nichtsdestoweniger die Angst vor seinem Vater größer als die vor der dänischen Polizei. Es war eine ermüdend vertraute Reise, die ihn von Jansborg im Osten des Landes nach Sande an der Westküste führte. Harald kannte jeden kleinen Bahnhof, jede nach Fisch stinkende Fährenstation und die flache, grüne Landschaft dazwischen. Wegen der vielen Aufenthalte und Verzögerungen auf der Strecke nahm die Reise den ganzen Tag in Anspruch – und doch wäre es Harald lieber gewesen, sie hätte noch länger gedauert.
Er verbrachte die Zeit damit, sich den Zorn seines Vaters auszumalen. Er überlegte sich empörte Selbstverteidigungsreden, die ihn freilich selber nicht überzeugten. Er versuchte es mit einer ganzen Palette mehr oder weniger unterwürfiger Entschuldigungen, fand aber keine Formel, die einerseits aufrichtig, andererseits aber auch nicht kriecherisch war. Er erwog, seinen Eltern zu sagen, dass sie dankbar sein könnten, ihn lebendig wieder zu sehen, hätte ihn doch das gleiche Schicksal ereilen können wie Poul Kirke – doch dann kam ihm diese Instrumentalisierung eines heldenhaften Todes einfach zu schäbig vor.
Auf der Insel verzögerte er seine Heimkehr weiter, indem er am Strand entlang nach Hause ging. Es herrschte Ebbe, und das Meer, das sich fast zwei Kilometer weit zurückgezogen hatte, war nur noch als schmaler dunkelblauer, hie und da mit den flüchtigen weißen Flecken der Brandung getupfter Streifen zwischen dem hellen Blau des Himmels und dem braungelben Sand erkennbar. Es war Abend, und die Sonne stand schon ziemlich niedrig. Ein paar Feriengäste wanderten durch die Dünen, und eine Gruppe zwölf- oder dreizehnjähriger Jungen spielte Fußball – ein rundum harmonisches Bild, wären da nicht die neuen grauen, mit Artilleriegeschützen bestückten und von Stahlhelm tragenden Soldaten besetzten Betonbunker gewesen, die in Abständen von anderthalb Kilometern entlang der Hochwassermarke errichtet worden waren.
Harald erreichte den deutschen Stützpunkt und verließ den Strand, um das Gelände auf dem vorgeschriebenen weiten Umweg zu umrunden – eine weitere willkommene Verzögerung. Er fragte sich, ob Poul noch die Zeit gefunden hatte, seine Skizze von der Radaranlage an die Engländer weiterzugeben. Wenn nicht, so musste die Zeichnung der Polizei in die Hände gefallen sein. Ob man dort jetzt darüber nachdachte, von wem sie stammte? Zum Glück gab es keine direkte Verbindung zu ihm – und doch war allein schon der Gedanke Furcht erregend. Die Polizei wusste noch nicht, dass er ein Verbrecher war – aber sie kannte inzwischen das Verbrechen, das er begangen hatte.
Schließlich kam sein Elternhaus in Sicht. Das Pfarrhaus war, wie die Kirche, im ortsüblichen Stil gehalten – aus roten Klinkersteinen gemauert und mit einem Reetdach gedeckt, das weit über die Fenster hinunterreichte und an einen Hut erinnerte, den man sich tief in die Stirn gezogen hat, um die Augen vor Regen zu schützen. Der Balken über der Tür war mit schwarzen, weißen und grünen Schrägstrichen bemalt, auch dies eine lokale Tradition.
Harald ging um das Haus herum und lugte durch das rautenförmige Glasfenster in der Küchentür. Seine Mutter war allein. Er betrachtete sie einen Augenblick lang und fragte sich, wie sie wohl ausgesehen haben mochte, als sie so alt war wie er. Seit er denken konnte, sah sie müde aus, aber früher musste sie einmal recht hübsch gewesen sein.
Der Familienlegende zufolge hatte Haralds Vater Bruno lange Zeit als überzeugter Junggeselle gegolten, der ganz in der Arbeit für seine kleine Sekte aufging. Aber dann hatte er, mit siebenunddreißig, die zehn Jahre jüngere Lisbeth kennen gelernt und sein Herz verloren. So wahnsinnig war er in sie
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