Mitternachtsfantasie
Rosemary so sehr, dass sie ihren Kaffee verschüttete.
„Willy, was soll das?“
Amelia setzte etwas auf, von dem sie hoffte, dass es ein unschuldiges Lächeln war.
„Du siehst aber heute wirklich …“ Rosemary seufzte und schob Amelia die Butter hin. „Mir fehlen die Worte.“
„Das ist das erste Mal“, murmelte Wilhemina.
Sie wusste, was Rosemary zu sagen versucht hatte. Amelia glühte geradezu. Und Wilhemina war der Meinung, dass so etwas gar nicht damenhaft war. „Amelia, was hast du mit dir angestellt?“
Amelia zog den Kopf ein. „Oh, ich habe neulich gelesen, dass Frauen manchmal Kopfschmerzen von Haarnadeln bekommen, also dachte ich, ich trage mein Haar mal einen oder zwei Tage offen und warte ab, was geschieht.“
Wilhemina runzelte ihre Stirn. Rosemary wunderte sich ebenfalls über die Verwandlung ihrer Nichte. „Sprich weiter, Liebes“, drängte sie.
Amelia tat so, als wäre ihr gar nicht bewusst, welchen Aufruhr ihre Erscheinung verursachte. Dabei hatte sie eine Viertelstunde gebraucht, bis sie den Mut gefunden hatte, so herunterzukommen.
„Ihr wisst ja, wie oft ich Kopfschmerzen habe. Und ihr wollt nicht, dass ich mir das Haar abschneiden lasse, also …“
„Du liest zu viele Schundromane. Daran liegt das“, beschuldigte Wilhemina sie.
Amelia ignorierte das. „Ich habe es mir fest nach hinten gesteckt. Deshalb glaube ich nicht, dass es mir im Weg sein wird. Außerdem kann ich auf diese Weise mal die hübsche Spange tragen, die du mir zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hast. Erinnerst du dich, Tante Witty? Sie hat früher deiner Mutter gehört.“
Damit hatte Amelia einen Punkt gemacht. Also nahm Wilhemina etwas Neues in Angriff. „Was ich wissen will, ist, wo du dieses Kleid her hast.“
Amelia tat so, als würde sie überrascht an sich hinabblicken. „Ach das? Du hast mir doch neulich gesagt, ich müsste mir Neue kaufen. Dieses war im Ausverkauf. Ich habe zwanzig Dollar gespart.“
Wilhemina verzog ihr Gesicht. Gegen Sparsamkeit konnte sie nichts vorbringen.
„Ich liebe die Farbe“, schwärmte Rosemary. „Meinst du, sie haben auch eins in meiner Größe?“
„Du trägst doch keine Muster“, widersprach Wilhemina. „Du trägst immer Pastelltöne.“
„Nur weil du meine Sachen aussuchst.“ Rosemary hob die Stimme eine volle Oktave. Dann deutete sie auf Amelia. „Das gefällt mir. Ich habe Paisley immer gemocht. Mir gefällt Amelias Kleid besser als dieses alte Pinkfarbene.“ Sie zog einen Schmollmund.
Amelia seufzte. Sie hatte gewusst, dass es Probleme geben würde, wenn sie mit dem Kleid in kräftigen Herbstfarben nach Hause kam. Allerdings hatte sie nicht erwartet, dass sich daraus ein Streit zwischen den Schwestern entwickeln würde.
„Ich sehe in der Mittagspause mal nach, Tante Rosie. Aber ich glaube, es wäre zu dunkel für deine zarte Gesichtsfarbe. Vielleicht wäre etwas Helleres besser für dich.“
Rosemary strahlte. „Momma hat immer gesagt, ich wäre zart.“
„Puh!“, machte Wilhemina. „Du warst nie zart. Faul vielleicht, aber nicht zart.“
Amelia ging dazwischen. „Ich kümmere mich um das Kleid, Tante Rosie. Und ich freue mich, dass ich endlich die Spange deiner Mutter tragen kann, Tante Witty.“
Sie gab beiden Tanten einen Kuss auf die Wange und lief zur Tür hinaus. Gleich darauf saß sie in dem alten blauen Chrysler.
4. KAPITEL
„B eeilt euch“, rief Amelia. „Wir kommen zu spät zum Gottesdienst.“
Ihre Tanten kamen die Treppe herunter, nach Lavendel duftend, die Bibel an die Brust gedrückt, perfekt frisiert.
Wilhemina musterte Amelia und war zufrieden. „Hast du deine Bibel?“
„Ja, Ma’am.“ Amelia deutete auf den Tisch in der Diele, wo Bibel und Tasche lagen. „Komm, Tante Rosie. Ich will nicht wieder zu spät kommen so, wie letzten Sonntag. Alle haben schon gesungen.“
„Ich kann meinen Hut nicht finden. Neulich hatte ich ihn noch. Ich frage mich …“
„Er liegt im Esszimmer auf der Anrichte.“ Wilhemina seufzte. „Ich habe ihn gestern auf der Schaukel gefunden. Also wirklich, Schwester …“
Amelia holte den Hut und setzte ihn ihrer Tante auf. In den letzten Jahren war Rosemary immer vergesslicher geworden. Amelia wollte nicht darüber nachdenken, was das bedeuten könnte.
„Ich warte im Auto.“ Wilhemina ging mit so forschem Schritt hinaus, als würde sie in den Krieg ziehen.
„Ich denke, ich werde fahren“, murmelte Rosemary, während sie eine Locke unter ihren Hut steckte.
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