Mitternachtsfantasie
nicht gemeint.“
„Vergiss es, Amelia. Vielleicht hast du ja recht.“ Er griff nach ihrer Schulter, doch das war gar nicht nötig, er hatte auch so ihre volle Aufmerksamkeit.
„Ich habe schon kapiert, was du gesagt hast. Weißt du, Amelia, seit mir zum ersten Mal aufgefallen ist, dass eine Frau unter diesen Säcken steckt, in die du dich einhüllst, habe ich Tag und Nacht an dich gedacht. Und eins kannst du mir glauben, die Nächte sind die Hölle. Aber …“ Er ließ die Hände sinken. „Aber du kannst beruhigt sein. Deine Botschaft ist bei mir angekommen. Falls du noch mal von jemandem belästigt wirst, dann jedenfalls nicht von mir.“ Er drehte sich um, ging zu seinem Wagen, stieg ein, knallte die Tür zu und fuhr davon.
Amelia wäre ihm gern gefolgt. Sie hätte ihm gern gesagt, dass es ihr leidtat, und ihn um Verzeihung gebeten, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie konnte kaum atmen und schon gar nicht sprechen. Auch sehen konnte sie kaum, weil ihr die Tränen in den Augen standen. Alles, woran sie denken konnte, war, dass sie gerade den Mann beleidigt und zurückgewiesen hatte, den sie liebte.
„Oje.“ Rosemary bemerkte erst jetzt, dass Tyler weggefahren war. „Ich habe mich nicht mal verabschieden können.“
Amelia sah, dass die Männer sie neugierig anstarrten. „Ich auch nicht, Tante Rosie.“
Und dann brach sie in Tränen aus.
Es entstand eine Routine, die überraschend gut funktionierte. Erst war Wilhemina wütend, weil ihre Schwester angenommen hatte, dass sie Hilfe brauchten, und ausgerechnet Effie Dettenberg darum gebeten hatte, aber die Frauen kamen seltsamerweise gut miteinander aus. Jeden Morgen fuhr Amelia zur Arbeit, gerade wenn Effie die Straße überquerte. Sie winkten sich zu. Für Effie war das genug. Für Amelia war es alles, was sie zustande brachte.
Wilhemina befehligte den Haushalt von einem Sessel aus. Effie kochte und machte sauber, und Rosemary blieb aus dem Weg.
Alles war fast wieder normal. Nur Amelias Leben nicht. Das war zum Stillstand gekommen, als Tyler gegangen war. Sie hatte ihn seitdem nicht mehr gesehen. Es waren die längsten acht Tage ihres Lebens, und die Nächte waren eine einzige Qual. Wenn sie nicht an Tyler dachte, träumte sie von ihm. Ihr Körper schmerzte, und sie wusste, es gab nur ein Heilmittel: Tyler.
Amelia stellte ein Buch an seinen Platz im Regal und seufzte erleichtert. Endlich Feierabend! Sie ging in den Waschraum, um sich frisch zu machen, aber sie würde noch nicht nach Hause fahren. Dort würde sie sowieso bloß schlaflos im Bett liegen und sich an den Schmerz in Tylers Blick erinnern, für den sie verantwortlich war.
Sie beugte sich zum Spiegel vor und blinzelte, damit die Kontaktlinsen an die richtige Stelle rutschten. Es war notwendig gewesen, sie einzusetzen, nicht mutig.
Am Vorabend hatte sie ihre Brille nach dem Abendessen auf das Sideboard gelegt, und nach dem Geschirrspülen hatte sie sie dort nicht mehr vorgefunden. Rosemary hatte ein bisschen schuldbewusst ausgesehen, als Amelia danach gefragt hatte. Amelia nahm an, dass die Brille irgendwann wieder auftauchen würde. Ihre Tante verlegte dauernd etwas, ganz gleich, wem es gehörte.
Amelia löste ihr Haar und bürstete es gründlich, bevor sie es mit einem Band zusammennahm, das zu der türkisfarbenen Bluse und der Hose passte, die sie heute trug. Sie hatte bereits zu Hause angerufen und Effie gebeten, solange zu bleiben, bis die Tanten schlafen gingen. Auf Einzelheiten war Amelia dabei nicht eingegangen. Schließlich konnte sie der größten Klatschtante von Tulip ja nicht gut erzählen, dass sie zu einem Mann fahren wollte, um ihn um Verzeihung zu bitten.
Sie schloss die Bibliothek ab, stieg in ihr Auto und fuhr los. Ihr Leben würde erst wieder einen Sinn haben, wenn Tyler sie wieder anlächelte.
Tyler knallte die Hintertür zu, als er ins Haus kam. Ein weiterer langer Arbeitstag lag hinter ihm, und eine weitere lange Nacht stand ihm bevor. Er schaute in den Kühlschrank und machte die Tür seufzend wieder zu. Er wollte nichts zu essen. Er wollte Amelia.
Hinter ihm lagen die acht längsten Tage seines Lebens. Er war mehrmals kurz davor gewesen, zu Amelia zu fahren, doch inzwischen war er zu dem Schluss gekommen, dass ihre Beziehung nur etwas werden konnte, wenn sie den ersten Schritt unternahm. Er durfte sie nicht überrumpeln, sondern sie musste es selbst wollen. Also wartete er, doch sie rief nicht an, und während er sich nach dem Klang ihrer Stimme sehnte,
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