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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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wackligen Tischen und Männern mit harten Augen vorbeiging; ich sah, wie meine Mutter sich an einen im Schatten liegenden Tisch am entfernten Ende der schmalen Höhle setzte, und dann sah ich den Mann, der sich erhob, um sie zu begrüßen.
    Seine Gesichtshaut hing in Falten herunter, was offenbarte, dass er einmal Übergewicht gehabt hatte; seine Zähne waren von Paan befleckt. Er trug eine saubere weiße Kurta mit Lucknow-Stickerei um die Knopflöcher. Er hatte langes, poetisch langes Haar, das sich ihm über die Ohren kringelte, aber oben war sein Kopf kahl und glänzend. Verbotene Silben hallten in meinem Kopf wider: Na. Dir.
Nadir. Ich erkannte, dass ich verzweifelt wünschte, ich hätte nie beschlossen herzukommen.
     
    Es war einmal ein Ehemann in der Unterwelt, der floh und eine liebevolle Scheidungsbotschaft zurückließ, ein Dichter, dessen Verse sich noch nicht einmal reimten, dem von verwilderten Hundebastarden das Leben gerettet wurde. Nachdem er ein Jahrzehnt verschwunden war, tauchte er von Gott-weiß-wo wieder auf, seine Haut hing lose herab zum Gedenken an seine einstmalige Fülligkeit, und wie seine Es-war-einmal-Frau hatte er einen neuen Namen angenommen ... Nadir Khan war nun Qasim Khan, offizieller Kandidat der offiziellen Kommunistischen Partei Indiens. Lal Qasim. Der rote Qasim. Nichts ist ohne Bedeutung, nicht ohne Grund wird man rot. Mein Onkel Hanif sagte: «Behaltet die Kommunisten im Auge!», und meine Mutter wurde purpurrot; Politik und Gefühle vereinigten sich auf ihren Wangen ... durch die schmutzige, viereckige, gläserne Kinoleinwand, die das Fenster des Café Pionier darstellte, beobachtete ich, wie Amina Sinai und der Nicht-mehr-Nadir ihre Liebesszene zu Ende spielten; sie traten so ungeschickt auf, wie nur wirkliche Amateure es tun.
    Auf dem kunstlederüberzogenen Tisch eine Schachtel Zigaretten: State Express 555. Auch Zahlen haben ihre Bedeutung: 420, der Name, mit dem man Betrüger bezeichnet; 1001, die Zahl der Nacht, der Zauberei, der alternativen Realitäten – eine Zahl, von Dichtern geliebt und verabscheut von Politikern, für die alle alternativen Abwandlungen der Welt eine Bedrohung darstellen; und 555, die ich jahrelang für die böseste aller Zahlen hielt, für die Zahl des Teufels, des Großen Ungeheuers, Schaitans persönlich! (Cyrus-der-Große erzählte mir das, und die Möglichkeit, dass er sich irrte, zog ich nicht in Betracht. Doch er irrte sich: Die wahre dämonische Zahl ist nicht 555, sondern 666: Trotzdem sind die drei Fünfen in meiner Vorstellung bis auf den heutigen Tag von einer dunklen Aura umgeben.) ... Aber ich lasse mich hinreißen. Hier sei nur gesagt, dass
Nadir-Qasims Lieblingsmarke die oben genannte State Express war, dass auf der Packung dreimal die Ziffer fünf wiederholt wurde und dass die Hersteller W. D. & H. O. Wills waren. Unfähig, meiner Mutter ins Gesicht zu sehen, konzentrierte ich mich auf die Zigarettenschachtel und schnitt von der Einstellung der zwei Liebenden auf diese extreme Nahaufnahme von Nikotin.
    Aber nun kommen Hände ins Bild – zuerst die Hände Nadir-Qasims, deren poetische Weichheit mit der Zeit etwas schwielig geworden ist; Hände, die flackern wie Kerzenflammen, kriechen über Kunstleder vor, zucken dann zurück; danach die Hände einer Frau, schwarz wie Jet, die sich wie elegante Spinnen zentimeterweise nach vorn bewegen; Hände, die sich erheben, von der kunstlederbezogenen Tischplatte weg, Hände, die über drei Fünfen schweben und den seltsamsten aller Tänze beginnen, sich heben, senken, einander umkreisen, ein Muster weben, Hände, die sich nach einer Berührung sehnen, Hände, die sich ausstrecken, straffen, zittern, fordern – zum Schluss aber immer wieder zurückzucken, Fingerspitzen vermeiden Fingerspitzen, denn was ich hier auf meiner schmutzigen Glasleinwand sehe, ist letzten Endes ein indischer Film, in dem körperlicher Kontakt verboten ist, damit die zuschauende Blüte der indischen Jugend nicht verdorben werde; und es sind Füße unter dem Tisch, und darüber sind Gesichter, Füße, die sich Füßen nähern, Gesichter, die sich zärtlich einander zuneigen, aber in einem grausamen Schnitt des Zensors sich plötzlich voneinander entfernen ... zwei Fremde, die beide einen Bühnennamen tragen, der nicht ihr Geburtsname ist, spielen ihre halb ungewollten Rollen. Ich sah mir den Film nicht bis zu Ende an, schlüpfte in den Kofferraum des unpolierten, unbewachten Rovers zurück und wünschte, ich

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