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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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wäre nie hineingegangen, konnte aber nicht dem Wunsch widerstehen, ihn noch einmal von vorne zu sehen.
    Was ich ganz zum Schluss sah: die Hände meiner Mutter, die ein halb leeres Glas mit Lieblichem Lassi hoben, die Lippen meiner Mutter, die sich sanft, sehnsüchtig auf das Ornamentglas pressten,
die Hände meiner Mutter, die das Glas ihrem Nadir-Qasim reichten, der seinen eigenen poetischen Mund auf die andere Seite des Glases presste. So kam es, dass das Leben schlechte Kunst imitierte und dass die Schwester meines Onkels Hanif die Erotik des indirekten Kusses in die grüne Neonschäbigkeit des Café Pionier einführte.
    Ich fasse zusammen: Im Hochsommer 1957, auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes, errötete Amina Sinai unerklärlicherweise bei einer zufälligen Erwähnung der Kommunistischen Partei Indiens. Ihr Sohn – in dessen aufgewühlten Gedanken immer noch Raum für eine Verbohrtheit mehr war, denn ein zehnjähriges Gehirn kann jede Menge fixer Ideen unterbringen – folgte ihr in den Norden der Stadt und bespitzelte eine schmerzerfüllte Szene ohnmächtiger Liebe. (Nun, da Ahmed Sinai eingefroren war, war Nadir-Qasim noch nicht einmal sexuell im Nachteil; hin- und hergerissen zwischen einem Ehemann, der sich in einem Büro einschloss und Promenadenmischungen verfluchte, und einem Exehemann, der einst verliebt Triff-den-Spucknapf gespielt hatte, blieben Amina Sinai nichts anderes als Glasküsse und Handtänze.)
    Fragen: Nahm ich danach noch jemals die Dienste eines rosa Plastikstreifens in Anspruch? Kehrte ich je zu dem Café der Statisten und Marxisten zurück? Konfrontierte ich meine Mutter mit der abscheulichen Natur ihres Vergehens – denn wie kommt eine Mutter dazu, so etwas ... gleichgültig, was einmal war –, verübt vor den Augen ihres einzigen Sohnes, wie konnte sie wie konnte sie wie konnte sie? Antworten: Ich tat es nicht, ich tat es nicht, ich tat es nicht.
    Was ich tat: Wenn sie «Besorgungen» machte, nistete ich mich in ihren Gedanken ein. Nicht länger darauf bedacht, mich mit eigenen Augen zu überzeugen, fuhr ich im Kopf meiner Mutter in den Norden der Stadt; geschützt durch dieses unwahrscheinliche Inkognito saß ich im Café Pionier und hörte Unterhaltungen über die Wahlaussichten des Roten Qasim mit an; körperlos, aber ganz
und gar gegenwärtig, folgte ich meiner Mutter, wenn sie Qasim auf seinen Runden begleitete. treppauf, treppab in die Mietskasernen des Viertels (waren es die Chawls, die mein Vater vor kurzem, seine Mieter ihrem Schicksal überlassend, verkauft hatte?), wenn sie ihm dabei half, Wasserhähne reparieren zu lassen, und Vermieter bedrängte, Reparaturen und Desinfizierung in Angriff zu nehmen. Amina Sinai bewegte sich im Auftrag der Kommunistischen Partei unter den Bedürftigen – eine Tatsache, die bei ihr unweigerlich Erstaunen hinterließ. Vielleicht tat sie es aufgrund der zunehmenden Verarmung ihres eigenen Lebens; im Alter von zehn Jahren war ich jedoch nicht zu Mitleid aufgelegt, und auf meine Art begann ich, Racheträume zu träumen.
    Von dem legendären Kalifen Harun al Raschid sagt man, er habe es genossen, sich inkognito unter die Bewohner Bagdads zu mischen; auch ich bin im Geheimen durch die Nebenstraßen meiner Stadt gereist, aber ich kann nicht behaupten, es hätte mir großen Spaß gemacht.
     
    Nüchterne Beschreibungen des Ausgefallenen und Bizarren und ihr Gegenteil, nämlich überhöhte, stilisierte Versionen des Alltäglichen  – diese Techniken, die auch Geisteshaltungen sind, habe ich dem furchtbarsten der Mitternachtskinder abgesehen – oder auch mir einverleibt –, meinem Rivalen, meinem Wechselbalggenossen, dem angeblichen Sohn Wee Willie Winkies: Shiva-von-den-Knien. Es waren Techniken, die in seinem Fall ohne jegliches bewusstes Nachdenken angewandt wurden, und die Folge war, dass sie ein Weltbild von erstaunlicher Gleichförmigkeit schufen, das es gestattete, beiläufig, sozusagen im Vorbeigehen, die schrecklichen Morde an Prostituierten zu erwähnen, die in jenen Tagen die Gossenpresse zu füllen begannen (während die Leichen die Gosse füllten), und sich andererseits leidenschaftlich über die kniffligen Einzelheiten eines bestimmten Kartenspiels aufzuhalten. Der Tod und eine Niederlage beim Romme waren für Shiva ein und dasselbe, daher seine
Furcht erregende, gleichgültige Gewalt, die am Ende ... aber ich will mit dem Anfang anfangen:
    Obwohl es zugegebenermaßen meine eigene Schuld ist, muss ich doch sagen, dass

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