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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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ein Gebiet, das mir in jenen Tagen vollkommen unbekannt war. Schnell verlor ich die Orientierung und war gezwungen, mir einzugestehen, dass ich mich nicht mehr zurechtfand. Endlich hielten wir am Ende einer nicht gerade einnehmenden Seitenstraße voll von Leuten, die in Kanalrohren schliefen, voller Fahrradreparaturwerkstätten und zerlumpter Männer und Jungen. Haufen von Kindern belagerten meine Mutter, als sie ausstieg; sie, die keine Fliege verscheuchen konnte, teilte kleine Münzen aus und vergrößerte dadurch die Menge enorm. Schließlich machte sie sich von ihnen los und ging die Straße hinunter. Ein Junge bettelte: «Auto polieren, Begum? Erstklassig eins a Auto polieren, Begum? Ich Auto bewachen, bis du kommen, Begum? Ich guter Wachmann, du fragen!» ... Einigermaßen angstvoll wartete ich ab, was sie sagen würde. Wie konnte ich unter den Augen eines Straßenjungenwächters aus diesem Kofferraum herauskommen? Erst einmal wäre es peinlich gewesen, und zweitens hätte
mein Auftauchen in der Straße Aufsehen erregt ... meine Mutter sagte: «Nein.» Sie ging die Straße hinunter und entschwand; der Möchtegernpolierer und Wachmann gab schließlich auf, es kam ein Augenblick, in dem sich aller Köpfe wandten, um ein zweites Auto vorbeifahren zu sehen, nur für den Fall, dass es ebenfalls stehen blieb, um eine Dame auszuladen, die Münzen wie Nüsse verteilte; und in diesem Augenblick (ich hatte durch mehrere Paar Augen gesehen, die mir dabei halfen, den richtigen Moment auszuwählen), bewerkstelligte ich meinen Trick mit dem rosa Plastikstreifen und war wie der Blitz draußen auf der Straße neben einem geschlossenen Kofferraum. Meine Lippen grimmig zusammenpressend und alle ausgestreckten Hände ignorierend, ging ich in der Richtung los, die meine Mutter eingeschlagen hatte, ein Schnüffler im Taschenformat mit der Nase eines Bluthunds und einer lauten Trommel an der Stelle, an der mein Herz hätte sein sollen ... und kam wenige Minuten später im Café Pionier an.
    Schmutziges Glas im Fenster, schmutzige Gläser auf dem Tisch – das Café Pionier machte nicht viel her, verglichen mit den Gaylords und Kwalitys der eleganteren Viertel der Stadt, ein richtiges rutputty Bumslokal mit bunten Reklametafeln, die LIEBLICHES LASSI und FANTASTIKO FALOODA und BHEL-PURI NACH BOMBAYER ART anpriesen, mit Filmmusik, die aus einem billigen Radio neben der Ladenkasse plärrte, ein langer schmaler grünlicher Raum, der von flackerndem Neonlicht erleuchtet wurde, eine abstoßende Welt, in der Männer mit abgebrochenen Zähnen und ausdruckslosen Augen und zerknitterten Karten an kunstlederbezogenen Tischen saßen. Aber trotz all seiner Schmuddeligkeit und Baufälligkeit war das Café Pionier ein Sammelort vieler Träume. Jeden Morgen füllte es sich mit den bestaussehenden Taugenichtsen der Stadt, all den Gaunern und Taxifahrern und kleinen Schiebern und gewieften Zockern, die vor langer Zeit in die Stadt gekommen waren und von Starruhm, grotesk vulgären Wohnungen und Schwarzgeldzahlungen träumten; denn jeden Morgen um sechs
schickten die größeren Studios kleinere Angestellte zum Café Pionier, um Statisten für einen Drehtag anzuheuern. Jeden Morgen, wenn die D. W. Rama Studios und Filmistan Talkies und RK Films ihre Wahl trafen, war das Café Pionier eine halbe Stunde lang der Brennpunkt aller Hoffnungen und Ambitionen der Stadt; dann gingen die Scouts der Studios weg, begleitet von den Glückspilzen des Tages, und das Café leerte sich und versank in seine übliche neonbeleuchtete Lethargie. Gegen Mittag betrat eine andere Kategorie von Träumern das Café, um den Nachmittag über Karten und Liebliches Lassi gebeugt und starke Biris qualmend zu verbringen  – andere Männer mit anderen Hoffnungen: Damals wusste ich es nicht, aber das nachmittägliche Pionier war ein berüchtigter Treffpunkt der Kommunisten.
    Es war Nachmittag; ich sah meine Mutter das Café Pionier betreten, wagte aber nicht, ihr zu folgen, sondern blieb auf der Straße stehen, drückte meine Nase gegen eine spinnwebenverhangene Ecke der schmierigen Fensterscheibe und ignorierte die neugierigen Blicke, die ich abbekam – denn meine weißen Shorts, wenn auch vom Kofferraum beschmutzt, waren doch gestärkt, mein Haar, wenn auch vom Kofferraum zerzaust, war doch pomadisiert, meine Schuhe, wenn auch abgeschürft, waren doch die Turnschuhe eines wohlhabenden Kindes. Ich folgte ihr mit den Augen, als sie zögernd und wegen der Warzen humpelnd an

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