Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
«Unter Verschluss zu haltende Information Geheimstufe eins.»
«Wow, Mann», sagte Sonny und zeigte mir in dreißig Sekunden, wie man den Kofferraum mit Hilfe eines dünnen rosa Plastikstreifens öffnete. «Nimm ihn, Mann», sagte Sonny Ibrahim. «Du brauchst ihn mehr als ich.»
Es war einmal eine Mutter, die, um Mutter zu werden, eingewilligt hatte, ihren Namen zu ändern; die sich die Aufgabe gestellt hatte, sich Stück um Stück in ihren Ehemann zu verlieben, der es aber nie gelang, einen bestimmten Teil zu lieben, den Teil seltsamerweise, der ihr die Mutterschaft ermöglichte; deren Füße durch Warzen behindert und deren Schultern unter der sich mehr und mehr ansammelnden Schuld der Welt gebeugt waren; deren Ehemannes Organ, das nicht geliebt werden konnte, sich nie wieder von den Auswirkungen einer Einfrierung erholte, und die wie ihr Ehemann schließlich den Mysterien des Telefons erlag und lange Minuten damit verbrachte, den Worten falsch verbundener Teilnehmer zu lauschen ... kurz nach meinem zehnten Geburtstag (als ich mich von dem Fieber erholt hatte, das unlängst wiedergekehrt ist, um mich nach einer Pause von fast einundzwanzig Jahren zu quälen) nahm Amina Sinai ihre neueste Angewohnheit wieder auf, plötzlich und immer unmittelbar nach einer falschen Verbindung zu dringenden
Besorgungen aufzubrechen. Doch nun fuhr, im Kofferraum des Rovers versteckt, ein blinder Passagier mit ihr, der von gestohlenen Kissen verdeckt und geschützt dalag und einen dünnen rosa Plastikstreifen in der Hand hielt.
Oh, welche Leiden man im Namen der Rechtschaffenheit durchmacht! Die Prellungen und Beulen! Das Einatmen der nach Gummi riechenden Luft im Kofferraum durch klappernde Zähne! Und ständig die Furcht vor Entdeckung ... «Angenommen, sie geht wirklich einkaufen? Wird der Kofferraum plötzlich auffliegen? Werden lebendige Hühner mit zusammengebundenen Füßen und gestutzten Flügeln hineingeworfen werden, flatternde, hackende Vögel in mein Versteck einfallen? Wird sie mich sehen? Mein Gott, dann darf ich eine Woche lang den Mund nicht aufmachen!» Meine Knie unters Kinn gezogen – das durch ein altes ausgeblichenes Kissen vor Kniestübern geschützt war –, reiste ich im Vehikel mütterlicher Treulosigkeit ins Unbekannte. Meine Mutter war eine vorsichtige Fahrerin; sie fuhr langsam und bog mit Vorsicht um Ecken; aber danach hatte ich schwarze und blaue Flecken, und Mary Pereira las mir die Leviten, weil ich mich in Raufereien verwickeln ließ: «Arre Gott was für eine Bescherung es ist ein Wunder dass sie dich nicht ganz und gar zu Kleinholz gemacht haben mein Gott was soll nur aus dir werden du schlimmer schwarzer Junge du Haddi-Phaelwan du Ringer der nur aus Haut und Knochen besteht!»
Um meine Gedanken von der rüttelnden Dunkelheit abzulenken, drang ich mit äußerster Behutsamkeit in den Teil des Geistes meiner Mutter ein, der für die Fahrtätigkeit verantwortlich war; folglich konnte ich unserer Route folgen. (Und auch im normalerweise aufgeräumten Geist meiner Mutter einen erschreckenden Grad an Unordnung ausmachen. Schon in jenen Tagen begann ich, Leute nach dem Grad ihrer inneren Aufgeräumtheit einzuordnen und zu entdecken, dass ich die unordentlicheren Typen vorzog, deren Gedanken – die ständig ineinander übergingen, sodass die Vorfreude aufs Essen dem ernsthaften Problem des Broterwerbs in die
Quere kam und sexuelle Phantasien ihre politischen Betrachtungen überlagerten – enger verwandt mit meinem eigenen durcheinander purzelnden Wirrwarr im Gehirn waren, in dem alles in alles Mögliche andere überlief und der weiße Punkt der Bewusstheit wie ein wild gewordener Floh von einer Sache zur anderen hüpfte ... Amina Sinai, deren emsige Ordnungsinstinkte sie mit einem Geist von beinah anormaler Ordentlichkeit versehen hatten, war ein seltsamer Neuankömmling in den Rängen der Verwirrung.)
Wir fuhren Richtung Norden, am Breach-Candy-Krankenhaus und am Mahalaxmi-Tempel vorbei, nach Norden über den Hornby Vellard am Vallabhbhai-Patel-Stadion und an Hadschi Alis Inselgrab vorbei, nördlich von dem, was (bevor der Traum des ersten William Methwold Wirklichkeit wurde) einmal die Insel Bombay gewesen war. Wir fuhren in Richtung der anonymen Masse aus Mietskasernen und Fischerdörfern und Textilfabriken und Filmstudios, zu der sich die Stadt in diesen nördlichen Zonen auswuchs (nicht weit von hier! ganz und gar nicht weit von hier, wo ich in Blickweite der Stadtbahnen sitze) ...
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