Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
gelegen, dass die Grenze zwischen Indien und Pakistan auf ihrer gesamten Länge vermint wurde. «Organisieren wir’s!», rief er oft aus. «Geben wir diesen Hindus doch was, worüber sie sich aufregen können! Wir sprengen ihre Invasoren in so viele Stücke, dass für eine Wiedergeburt nichts mehr übrig bleibt.» Er machte sich jedoch nicht übermäßige Sorgen um die Grenzen Ostpakistans,
weil er der Ansicht war, dass «diese verdammten Blackies sich um sich selber kümmern können».) ... Und nun entschlüpfte Bonzo der Leine, entkam irgendwie den hastig zupackenden Händen junger Burschen und watschelte aufs Minenfeld hinaus.
    Blinde Panik. Nach Minen suchende Soldaten tappen in rasendem Zeitlupentempo durch das Sprengfeld. General Zulfikar und andere hohe Tiere der Armee gehen hinter ihrer Tribüne in Deckung und warten auf die Explosion ... Aber es kam keine, und als die Zierde der pakistanischen Armee aus Mülltonnen und hinter Bänken hervorspähte, sah sie, wie Bonzo sich mit der Nase am Boden graziös einen Weg durch das Feld mit den todbringenden Samen suchte, ganz unbekümmert und unbefangen. General Zulfikar warf sein Käppi in die Luft. «Verdammt gut!», schrie er mit der dünnen Stimme, die sich zwischen Nase und Kinn hervorquetschte. «Die alte Dame kann die Minen riechen!» Bonzo wurde unverzüglich als vierbeiniger Minendetektor mit dem ehrenhalber verliehenen Titel eines Hauptfeldwebels in die Armee aufgenommen.
    Ich erwähne Bonzos Leistung, weil der General dadurch etwas an die Hand bekam, was er uns unter die Nase reiben konnte. Wir Sinais – und Pia Aziz – waren hilflose, unproduktive Mitglieder des Zulfikar-Haushalts, und der General legte Wert darauf, dass wir das nicht vergaßen: «Selbst eine verdammte hundert Jahre alte Beaglehündin kann ihren verdammten Lebensunterhalt verdienen», hörte man ihn murmeln, «aber mein Haus ist voller Leute, die keine einzige verdammte Sache organisieren können.» Doch noch vor Ende Oktober sollte er zumindest für meine Anwesenheit dankbar sein ... und die Verwandlung des Äffchens ließ nicht mehr lange auf sich warten.
    Wir gingen zur Schule mit Vetter Zafar, der nun, da wir Kinder aus einem zerrütteten Elternhaus waren, offenbar nicht mehr so wild darauf war, meine Schwester zu heiraten; aber seine schlimmste Tat beging er an einem Wochenende, als wir in die Berghütte des Generals in Nathia Gali hinter Murree mitgenommen wurden. Ich
war in einem Zustand höchster Erregung (meine Krankheit war gerade für geheilt erklärt worden): Berge! Möglicherweise Panther! Kalte, beißende Luft! – sodass ich mir nichts dabei dachte, als der General mich fragte, ob es mir etwas ausmache, ein Bett mit Zafar zu teilen, und ich erriet es noch nicht einmal, als die Gummiunterlage über die Matratze gebreitet wurde ... Ich erwachte in den frühen Morgenstunden in einer widerlichen Pfütze voll lauwarmer Flüssigkeit und begann Zeter und Mordio zu schreien. Der General erschien an unserem Bett und begann seinem Sohn den Verstand aus dem Leibe zu prügeln. «Du bist jetzt ein erwachsener Mann! Verdammt noch mal! Trotzdem und immer noch tust du’s! Organisier dich! Tunichtgut! Wer benimmt sich schon so beschissen? Feiglinge, nur die! Ich will verdammt sein, wenn ich einen Feigling zum Sohn habe ...» Mein Vetter Zafar nässte jedoch zur Beschämung seiner Familie auch weiterhin das Bett; obwohl er verprügelt wurde, lief ihm die Flüssigkeit die Beine hinab, und eines Tages passierte es, als er wach war. Doch das geschah, nachdem mit meiner Hilfe bestimmte Züge mit Pfefferstreuern ausgeführt worden waren, die mir bewiesen, dass die Verknüpfungsmodi immer noch zu funktionieren schienen, auch wenn die telepathischen Wellen in diesem Land blockiert waren: aktiv-buchstäblich ebenso wie -metaphorisch trug ich dazu bei, das Land der Reinen zu verändern.
     
    Das Messingäffchen und ich beobachteten in jenen Tagen hilflos, wie unsere Mutter dahinwelkte. Sie, die in der Hitze immer so beflissen und eifrig gewesen war, begann in der nördlichen Kälte zu erschlaffen. Nach dem Verlust zweier Ehemänner hatte sie (in ihren eigenen Augen) auch ihren Lebensinhalt verloren, und außerdem musste eine Beziehung wieder aufgebaut werden: die zwischen Mutter und Sohn. Eines Abends presste sie mich fest an sich und sagte: «Liebe, mein Kind, ist etwas, was jede Mutter lernt; sie wird nicht mit einem Baby geboren, sondern sie entsteht allmählich, und elf Jahre lang habe

Weitere Kostenlose Bücher