Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Schatztruhen, weiße, gruselige Quallen und ab und zu sogar die nach Luft schnappende legendäre Schreckensgestalt eines Wassermanns. Da ich zum ersten Mal auf dieses Wasserland, diesen Albtraum-Sumpf starrte, hätte ich mich erregt fühlen sollen, aber die Hitze und die Ereignisse der letzten Zeit lasteten auf mir; meine Oberlippe war immer noch kindlich nass von Nasenschleim, aber mich bedrückte das Gefühl, ich sei von einer überlangen und sabbernden Kindheit unmittelbar in ein vorzeitiges (wenn auch noch tröpfelndes) Alter eingetreten. Meine Stimme war tiefer geworden; ich hatte anfangen müssen, mich zu rasieren, und mein Gesicht war mit Blut befleckt, wo die Klinge Pickelköpfchen abgeschnitten hatte ... Der Zahlmeister des
Schiffes kam an mir vorbei und sagte: «Du gehst besser nach unten, Sohn. Gerade jetzt ist es am heißesten.» Ich erkundigte mich nach den Fährbooten. «Bloß Vorräte», sagte er, entfernte sich und überließ es mir, über eine Zukunft nachzusinnen, in der es wenig gab, worauf man sich freuen konnte, außer der widerwilligen Gastfreundschaft General Zulfikars, der selbstzufriedenen Gespreiztheit meiner Tante Emerald, die es zweifellos genießen würde, mit ihrem weltlichen Erfolg und Status vor ihrer unglücklichen Schwester und ihrer verwitweten Schwägerin anzugeben, und der dummen Anmaßung ihres Sohnes Zafar ... «Pakistan», sagte ich laut, «Arsch der Welt!» Und wir waren noch nicht einmal angekommen.
Ich betrachtete die Boote; sie schienen durch einen Schwindel erregenden Dunst zu schwimmen. Auch das Deck schien heftig zu schwanken, obwohl es so gut wie keinen Wind gab; und obwohl ich versuchte, mich an der Reling festzuklammern, waren die Planken zu schnell für mich: Sie rasten hoch und schlugen mich auf die Nase.
So kam ich nach Pakistan mit einem leichten Sonnenstich, der zur Leere meiner Hände und zum Wissen um meine Geburt hinzukam. Und was war der Name des Schiffs? Welche beiden Schwesterschiffe verkehrten noch zwischen Bombay und Karatschi, bevor die Politik ihren Fahrten ein Ende machte? Unser Schiff war die S. S. Sabarmati; ihre Schwester, die an uns vorbeifuhr, gerade als wir den Hafen von Karatschi erreichten, war die Sarasvati. Wir dampften ins Exil an Bord eines Schiffs, das die Namensschwester des Fregattenkapitäns war, was wieder einmal beweist, dass man der Wiederholung nicht entfliehen kann.
Wir erreichten Rawalpindi in einem heißen, staubigen Zug. (Der General und Emerald reisten in einem klimatisierten Abteil, für uns Übrige kauften sie gewöhnliche Erster-Klasse-Fahrkarten.) Aber es war kühl, als wir ’Pindi erreichten, und ich setzte zum ersten Mal den Fuß in eine nördliche Stadt ... Ich erinnere mich an sie als
an eine anonyme Stadt mit niedrigen Gebäuden: Kasernen, Obsthandlungen, Sportwarenindustrie, groß gewachsene Militärs in den Straßen, Jeeps, Möbelschreiner, Polo. Eine Stadt, in der man ganz entsetzlich frieren konnte. Und in einer neuen und teuren Wohngegend ein geräumiges Haus, das von einer hohen, mit Stacheldraht bewehrten Mauer umgeben war und vor dem Wachen patrouillierten: General Zulfikars Residenz. Es gab ein Bad neben dem Doppelbett, in dem der General schlief; es gab ein Schlagwort im Haus: «Organisieren wir’s!»; die Dienstboten trugen grüne Armeepullover und Uniformmützen; abends drang von ihren Unterkünften der Duft von Bhang und Charas herauf. Das Mobiliar war teuer und überraschend schön; schlechten Geschmack konnte man Emerald nicht vorwerfen. Es war trotz all seines militärischen Anstrichs ein langweiliges Haus ohne Leben; selbst die Goldfische in dem Aquarium, das in die Esszimmerwand eingelassen war, schienen lustlos Blasen aufsteigen zu lassen; sein vielleicht interessantester Bewohner war noch nicht einmal ein Mensch. Sie gestatten mir, dass ich einen Augenblick lang Bonzo, den Hund des Generals, beschreibe. Entschuldigung: die alte Beaglehündin des Generals.
Diese mit einem Kropf behaftete Kreatur von pergamentner Antiquität war ihr Leben lang höchst träge und nutzlos gewesen, aber während ich mich noch vom Sonnenstich erholte, sorgte sie für den ersten Eklat, der sich während unseres Aufenthalts ereignete – eine Art Vorschau auf die «Revolution der Pfefferstreuer». General Zulfikar hatte sie eines Tages mit zu einem militärischen Ausbildungslager genommen, wo er das Training einer Einheit in einem eigens präparierten Minenfeld überwachen sollte. (Dem General war sehr daran
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