Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
schreiend, auf die Bahre hinauf, um den Fuß des Heiligen zu küssen? Verfiel Frau Pereira inmitten einer unüberschaubaren Menge in heilige Raserei? Frag sie! Presste sie, von ihrem wild gewordenen Geist besessen, ihre Lippen auf den großen Zeh am linken Fuß des heiligen Franz oder nicht? Frag selbst: Hat Marys Mutter den rechten Zeh ganz und gar abgebissen?
«Wie?», jammert Padma, ganz verstört durch meinen Zorn. «Was soll das heißen: frag sie ...?»
Und auch dies ist wahr: Als die Zeitungen schrieben, dass die alte Dame auf übernatürliche Weise bestraft worden sei – hatten sie das erfunden? Als sie Aussagen kirchlicher Würdenträger und
Augenzeugen zitierten, die beschrieben, wie die alte Frau in massiven Stein verwandelt wurde – hatten sie das etwa auch erfunden? Nein? Frag sie, ob es wahr ist, dass die Kirche die Steinfigur einer alten Frau in den Städten und Dörfern Goas ausstellen ließ, um zu zeigen, was mit denen geschah, die sich den Heiligen gegenüber schlecht benahmen! Frag: Wurde diese Statue nicht in mehreren Dörfern gleichzeitig gesehen – und ist das nun Beweis für einen Betrug oder für ein weiteres Wunder?
«Du weißt doch, dass ich keinen fragen kann», heult Padma ... aber ich mache heute Abend, da ich spüre, wie mein Zorn nachlässt, keine weiteren Enthüllungen mehr.
In dürren Worten also: Mary Pereira verließ uns und ging zu ihrer Mutter nach Goa. Alice Pereira jedoch blieb; Alice blieb in Ahmed Sinais Büro und tippte und holte Sandwiches und Erfrischungsgetränke.
Was mich betraf – als die Trauerzeit für meinen Onkel Hanif um war, ging ich in mein zweites Exil.
Züge mit Pfefferstreuern
Ich kam zwangsweise zu dem Schluss, dass Shiva, mein Rivale, mein Wechselbalgbruder, nicht mehr zum Forum meines Geistes zugelassen werden konnte; die Gründe dafür waren unedel, ich gebe es zu. Ich hatte Angst, er würde entdecken, was ich mit Sicherheit nicht vor ihm würde verbergen können – das Geheimnis unserer Geburt. Shiva, für den die Welt aus Dingen bestand, der sich Geschichte nur als den beständigen Kampf des eigenen Ichs-gegen-die-Masse vorstellen konnte, würde bestimmt auf seinem Geburtsrecht bestehen; und entsetzt beim bloßen Gedanken daran, dass mein X-beiniger Widersacher mich im blauen Zimmer meiner Kindheit ersetzen könnte, während ich, notgedrungen, verdrossen das zweigeschossige Hügelchen hinab in die Slums im Norden wanderte, weigerte ich mich zu akzeptieren, dass die Prophezeiung Ramram Seths für Winkies Sohn bestimmt gewesen war, dass Ministerpräsidenten an Shiva geschrieben hatten und dass die Fischer für Shiva aufs Meer hinausdeuteten ... kurzum, ich bewertete mein elfjähriges Dasein als Sohn viel höher als bloße Blutsverwandtschaft und beschloss, dass mein zerstörerisches, gewalttätiges Alter Ego nie wieder an den durch Fraktionskämpfe zunehmend beeinträchtigten Ratsversammlungen der Mitternachtskinder-Konferenz teilnehmen sollte, dass ich mein Geheimnis – das einst Marys gewesen war – hüten würde wie mein eigenes Leben.
Zu der Zeit gab es Nächte, in denen ich es vermied, die Konferenz überhaupt einzuberufen – nicht wegen des unbefriedigenden Verlaufs, den sie genommen hatte, sondern weil ich wusste, dass es Zeit und Kaltblütigkeit erforderte, einen Wall um mein neues Wissen zu errichten, der den Kindern den Zugang dazu verwehren würde;
mit der Zeit, darauf baute ich, würde mir das gelingen ... vor Shiva aber hatte ich Angst. Er, das wildeste und mächtigste der Kinder, würde vordringen, wo andere nicht hingelangen konnten ... Auf jeden Fall entzog ich mich meinen Mitkindern, und dann war es plötzlich zu spät, denn nachdem ich Shiva ins Exil geschickt hatte, fand ich mich plötzlich selbst in einem Exil wieder, von dem aus ich nicht mit meinen über fünfhundert Kollegen in Verbindung treten konnte: Es verschlug mich über die durch Teilung geschaffene Grenze nach Pakistan.
Ende September 1958 ging die Trauerzeit für meinen Onkel Hanif zu Ende, und wunderbarerweise legte sich die Staubwolke, die uns umhüllt hatte, infolge eines gnädigen Regenschauers. Als wir gebadet, frische Kleider angezogen und die Deckenventilatoren eingeschaltet hatten, traten wir, für kurze Zeit vom trügerischen Optimismus frischer, nach Seife riechender Sauberkeit erfüllt, aus den Badezimmern, um einen staubigen, ungewaschenen Ahmed Sinai zu entdecken, der, die Whiskyflasche in der Hand, die Augen rot gerändert, im
Weitere Kostenlose Bücher