Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Wahnsinnsgriff der Dschinns aus seinem Büro nach oben schwankte. Er hatte in der privaten Welt seiner Abstraktionen mit den undenkbaren Realitäten gerungen, die Marys Enthüllungen freigesetzt hatten, und war dank irgendeiner blödsinnigen Auswirkung des Alkohols von einer unbeschreiblichen Wut erfasst, die sich weder gegen die abwesende Mary noch gegen den anwesenden Wechselbalg richtete, sondern gegen meine Mutter – gegen Amina Sinai, sollte ich sagen. Vielleicht weil er wusste, dass er sie um Verzeihung bitten sollte, und das nicht tun wollte, schrie Ahmed Sinai sie in Hörweite ihrer entsetzten Familie stundenlang an; ich will die Schimpfworte, mit denen er sie belegte, nicht wiederholen und auch nicht erwähnen, welch lästerliche Schritte zu unternehmen er ihr für ihr weiteres Leben nahe legte. Schließlich schritt jedoch Ehrwürdige Mutter ein.
«Schon einmal, meine Tochter», sagte sie, ohne auf Ahmeds anhaltendes Toben zu achten, «haben dein Vater und ich, wieheißtesnoch,
gesagt, dass es keine Schande sei, einen unzulänglichen Ehemann zu verlassen. Jetzt sage ich es wieder: Du hast, wieheißtesnoch, einen Mann von unaussprechlicher Schlechtigkeit. Geh weg von ihm, geh heute und nimm deine Kinder mit, wieheißtesnoch, damit sie diese Flüche, die er wie ein Tier aus der Gosse, wieheißtesnoch, von seinen Lippen speit, nicht mehr hören müssen. Nimm deine Kinder, sage ich, wieheißtesnoch – deine beiden Kinder», sagte sie und presste mich an ihre Brust. Nachdem Ehrwürdige Mutter mich einmal legitimiert hatte, konnte sich ihr niemand widersetzen; mir scheint heute, über die Jahre hinweg, dass es selbst meinen fluchenden Vater beeindruckte, wie sie sich für das elfjährige rotznasige Kind einsetzte.
Ehrwürdige Mutter regelte alles; meine Mutter war wie Wachs – wie Modelliermasse! – in ihren allmächtigen Händen. Zu der Zeit glaubte meine Großmutter noch (ich muss sie weiterhin so nennen), dass sie und Aadam Aziz bald nach Pakistan auswandern würden; deshalb wies sie meine Tante Emerald an, uns alle – Amina, das Äffchen, mich selbst, sogar meine Tante Pia – mit sich zu nehmen und ihr Kommen zu erwarten. Meine Tante Emerald wirkte alles andere als erfreut, aber sowohl sie als auch General Zulfikar fügten sich. Und da mein Vater sich benahm wie ein Geistesgestörter, was uns um unsere Sicherheit fürchten ließ, und die Zulfikars schon Plätze auf einem Schiff gebucht hatten, das an jenem Abend ablegen sollte, verließ ich die Stätte, die mein ganzes Leben lang mein Heim gewesen war, am selben Tag und ließ Ahmed Sinai allein mit Alice Pereira zurück, denn als meine Mutter ihren zweiten Mann verließ, gingen die anderen Diener auch alle fort.
In Pakistan ging meine zweite überstürzte Wachstumsperiode zu Ende. Und in Pakistan entdeckte ich, dass die Existenz einer Grenze meine Gedankenübertragungen an die Überfünfhundert irgendwie blockierte, sodass ich, einmal mehr von zu Hause vertrieben, auch jener Gabe verlustig ging, die mein ureigenes Geburtsrecht war: der Gabe der Mitternachtskinder.
An einem hitzedurchglühten Nachmittag lagen wir vor dem Ran von Kutch vor Anker. Hitze summte in meinem schlechten linken Ohr, trotzdem blieb ich lieber auf Deck und sah zu, wie kleine, irgendwie verdächtig aussehende Ruderboote und Fischerdhaus einen Fährdienst zwischen unserem Schiff und dem Ran betrieben und in Segeltuch eingeschlagene Gegenstände hin und her, her und hin transportierten. Unter Deck spielten die Erwachsenen Housie-Housie; ich hatte keine Ahnung, wo das Äffchen war. Zum ersten Mal war ich auf einem richtigen Schiff (gelegentliche Besuche auf amerikanischen Kriegsschiffen im Hafen von Bombay zählten nicht, da es sich um reinen Tourismus handelte; außerdem war es stets peinlich, sich in Gesellschaft Dutzender hochschwangerer Damen zu befinden, die diese Ausflüge immer in der Hoffnung machten, dass ihre Wehen begännen und sie Kinder gebären würden, die kraft ihrer Geburt auf See ein Anrecht auf die amerikanische Staatsbürgerschaft hätten). Ich starrte durch den Hitzeschleier auf den Ran. Der Ran von Kutch ... ich hatte das schon immer für einen Zaubernamen gehalten und halb gewünscht, halb gefürchtet, den Ort zu besuchen, dieses Chamäleongebiet, das die eine Hälfte des Jahres Land und die andere Hälfte des Jahres Meer war und auf dem der zurückweichende Ozean, wie es hieß, alles mögliche sagenhafte Strandgut zurückließ wie beispielsweise
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