Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
ich gelernt, dich als meinen Sohn zu lieben.»
Aber hinter ihrer Sanftheit lag eine Distanz, als wolle sie sich selbst überreden ... ein Abstand, den ich auch aus dem mitternächtlichen Geraune des Äffchens heraushörte: «He, Bruder, warum gehen wir nicht hin und schütten Wasser über Zafar – sie werden bloß denken, er hat ins Bett gemacht?» – und dass ich diese Kluft empfand, zeigte mir, dass ihre Vorstellungskraft, obwohl sie Sohn und Bruder sagten, hart daran arbeitete, Marys Geständnis zu verdauen; ohne damals zu wissen, dass es ihnen nie gelingen sollte, sich Bruder und Sohn nach dem alten Bild vorzustellen, hatte ich weiter schreckliche Angst vor Shiva und war noch entsprechend mehr von dem fatalen Verlangen beseelt, mich ihrer Verwandtschaft würdig zu erweisen. Obwohl Ehrwürdige Mutter mich anerkannt hatte, fühlte ich mich erst wohl, als mein Vater auf einer mehr-als-drei-Jahre-entfernt-liegenden Veranda sagte: «Komm, mein Sohn, komm her und lass mich dich lieben.» Vielleicht ist das der Grund für mein Benehmen am Abend des 7. Oktober 1958.
... Ein elfjähriger Junge, Padma, wusste sehr wenig über die inneren Angelegenheiten Pakistans, doch an diesem Oktobertag konnte er sehen, dass eine ungewöhnliche Abendeinladung vorbereitet wurde. Mit elf Jahren wusste Saleem nichts über die Verfassung von 1956 und ihre allmähliche Aushöhlung, aber seine Augen waren scharf genug, um die Sicherheitsoffiziere der Armee auszumachen, die Militärpolizisten, die an jenem Nachmittag eintrafen, um heimlich hinter jedem Gartenbusch zu lauern. Parteienhader und die vielfältigen Inkompetenzen von Ghulam Mohammed waren ihm unbekannt, aber es war klar, dass seine Tante Emerald ihre besten Juwelen anlegte. Die Farce von Vier-Ministerpräsidenten-in-zwei-Jahren hatte ihn nie zum Kichern gebracht, aber in dem Hauch von Drama, der über dem Haus des Generals hing, konnte er spüren, dass so etwas wie ein Schlussvorhang auf sie zukam. Ohne etwas über die Entstehung der Republikanischen Partei zu wissen, war er dennoch neugierig auf die Gästeliste für die Zulfikar-Party; obwohl er sich in einem Land befand, wo Namen nichts bedeuteten – wer
war Chaudhuri Muhammad Ali? oder Suhrawardy? oder Chundrigar oder Noon? -, machte die von Onkel und Tante sorgsam gehütete Anonymität der Gäste, die zum Abendbrot erwartet wurden, stutzig. Obwohl er doch einmal Schlagzeilen über Pakistan aus Zeitungen ausgeschnitten hatte – STELLVERTRETENDER SPRECHER OSTPAKISTANS BEI MÖBELSCHLACHT GETÖTET –, hatte er doch keine Ahnung, weshalb um sechs Uhr abends eine lange Reihe schwarzer Limousinen durch die bewachte Einfahrt auf das Zulfikar-Anwesen zukamen, weshalb Flaggen auf ihren Motorhauben wehten, weshalb ihre Insassen sich weigerten zu lächeln oder weshalb Emerald und Pia und meine Mutter mit einem Gesichtsausdruck, der eher zu einer Beerdigung als zu einer gesellschaftlichen Zusammenkunft gepasst hätte, hinter General Zulfikar standen. Wer was starb? Wer saß in den Limousinen, und warum kamen sie? – Ich hatte keine Ahnung, aber ich stand auf Zehenspitzen hinter meiner Mutter und starrte auf die getönten Fenster der geheimnisvollen Wagen.
Wagentüren öffneten sich, Offiziersburschen, Adjutanten sprangen aus den Fahrzeugen und öffneten die hinteren Türen; ein kleiner Muskel begann im Gesicht meiner Tante Emerald zu zucken. Und dann, wer stieg aus den Automobilen mit den wehenden Flaggen aus? Welche Namen sollten diesem sagenhaften Aufgebot an Schnurrbärten, Exerzierstöckchen, bohrenden Augen, Orden und Epauletten zugeordnet werden? Saleem kannte weder Namen noch Seriennummern; Ränge konnten jedoch festgestellt werden. Orden und Epauletten, stolz auf Brust und Schulter getragen, kündigten die Ankunft wahrhaft hoher Tiere an. Und aus dem letzten Wagen kam ein hoch gewachsener Mann mit einem auffallend runden Kopf, rund wie ein Blechglobus, wenn auch nicht mit Längen- und Breitengraden markiert; obwohl er einen Kopf wie ein Planet hatte, war er nicht beschriftet wie die Weltkugel, die das Messingäffchen einmal zertreten hatte; nicht MADE AS ENGLAND (wenn auch bestimmt in Sandhurst ausgebildet), bewegte er sich durch das Spalier
salutierender Orden-und-Epauletten, blieb vor meiner Tante Emerald stehen und schloss sich mit seinem Gruß den anderen an.
«Herr Oberkommandierender», sagte meine Tante, «willkommen in unserem Heim.»
«Emerald, Emerald», kam es aus dem Mund in dem kugelförmigen Kopf –
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