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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Anfall von Optimismus war.)
    ... 1932, zehn Jahre vorher, hatte er die Aufsicht über die Erziehung seiner Kinder übernommen. Ehrwürdige Mutter war entsetzt, aber das war die traditionelle Rolle eines Vaters, und so konnte sie nichts dagegen einwenden. Alia war elf, die zweite Tochter, Mumtaz, war fast neun. Die beiden Jungen, Hanif und Mustapha, waren acht und sechs, und die kleine Emerald war noch keine fünf. Ehrwürdige Mutter ging dazu über, ihre Ängste dem Koch der Familie, Daoud, anzuvertrauen. «Er trichtert ihnen ich weiß nicht was für ausländische Sprachen ein, wieheißtesnoch, und zweifellos auch noch anderen Unsinn.» Daoud rührte in den Töpfen, und
Ehrwürdige Mutter schrie: «Wundert es dich da noch, wieheißtesnoch, dass die Kleine sich Emerald nennt? Auf Englisch, wieheißtesnoch? Der Mann richtet mir meine Kinder zugrunde. Gib weniger Kümmel daran, wieheißtesnoch, du solltest mehr auf dein Kochen achten und dich weniger um die Angelegenheiten anderer Leute kümmern.»
    Nur eine Bedingung in Bezug auf Erziehung machte sie: religiöse Unterweisung. Anders als Aziz, dem seine ambivalente Haltung sehr zu schaffen machte, war sie gläubig geblieben. «Du hast deinen Kolibri», sagte sie zu ihm, «ich aber habe, wieheißtesnoch, den Ruf Gottes. Ein besseres Geräusch, als wenn dieser Mann summt wie Kolibriflügel.» Das war einer ihrer seltenen politischen Kommentare ... und dann kam der Tag, an dem Aziz den Religionslehrer hinauswarf, Daumen und Zeigefinger fest um das Ohr des Maulvi geschlossen. Naseem Aziz sah, wie ihr Mann den armen Kerl mit dem struppigen Bart zur Tür in der Gartenmauer führte, und rang nach Luft; als dann der Fuß ihres Mannes auf dem fleischigsten Teil des Geistlichen appliziert wurde, schrie sie auf. Donnerkeile losschleudernd, segelte Ehrwürdige Mutter in die Schlacht.
    «Mann ohne Anstand!», verfluchte sie ihren Ehemann und: «Mann ohne, wieheißtesnoch, Schamgefühl!» Kinder sahen aus der Geborgenheit der rückwärtigen Veranda zu. Und Aziz: «Weißt du, was dieser Mann deinen Kindern beigebracht hat?» Und Ehrwürdige Mutter, die Frage gegen Frage schleudert: «Was tust du nicht noch alles, um Unheil, wieheißtesnoch, auf unsere Häupter zu laden?» Aber nun Aziz: «Du glaubst, es war Nastaliq-Schrift, was?» – daraufhin seine Frau, leidenschaftlicher werdend: «Würdest du Schweinefleisch essen? Wieheißtesnoch? Würdest du auf den Koran spucken?» Und mit lauter werdender Stimme pariert der Arzt: «Oder waren es ein paar Verse aus ? Glaubst du das?» ... Ohne ihm Beachtung zu schenken, erreicht Ehrwürdige Mutter ihren Höhepunkt: «Würdest du deine Töchter an Deutsche verheiraten?!» Und in der Pause, in der sie um Atem ringen muss,
kann mein Großvater enthüllen: «Er hat sie hassen gelehrt, Frau. Er befiehlt ihnen, Hindus und Buddhisten und Dschainas und Sikhs und wer weiß was sonst noch für Vegetarier zu hassen. Willst du hasserfüllte Kinder haben, Frau?»
    «Willst du gottlose haben?» Ehrwürdige Mutter sieht die Legionen des Erzengels Gabriel vor sich, die des Nachts herabsteigen, um ihre heidnische Brut in die Hölle zu schaffen. Sie hat eine lebhafte Vorstellung von der Hölle. Sie ist so heiß wie Rajputana im Juni, und jeder wird gezwungen, sieben Fremdsprachen zu lernen ... «Ich schwöre diesen Eid, wieheißtesnoch», sagte meine Großmutter.«Ich schwöre, dass kein Essen aus meiner Küche deine Lippen berühren wird! Nein, kein einziges Chapati, bis du den Maulvi Sahib zurückbringst und ihm, wieheißtesnoch, die Füße küsst!»
    Der Hungerkrieg, der an diesem Tag begann, wurde beinahe zum tödlichen Duell. Getreu ihrem Wort reichte Ehrwürdige Mutter ihrem Mann bei den Mahlzeiten noch nicht einmal einen leeren Teller. Doktor Aziz ergriff sofortige Vergeltungsmaßnahmen, indem er sich weigerte, außerhalb des Hauses etwas zu sich zu nehmen. Tag um Tag sahen die fünf Kinder ihren Vater dahinschwinden, während ihre Mutter unbarmherzig über die Essensschüsseln wachte. «Kannst du denn ganz verschwinden?», fragte Emerald interessiert und fügte besorgt hinzu: «Tu es aber nicht, wenn du nicht weißt, wie du wieder zurückkommen kannst.» Aziz’ Gesicht bekam Krater; selbst seine Nase schien dünner zu werden. Sein Körper war ein Schlachtfeld geworden, und jeden Tag wurde ein Stück davon weggesprengt. Er sagte zu Alia, seiner Ältesten, dem klugen Kind: «In jedem Krieg erleidet das Schlachtfeld schlimmere Verheerungen

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