Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
lacht Padma, «kein Wunder, dass er bei den Männern so beliebt war!») Nadir Khan als sein Sekretär war ständig der Schwingungen hervorrufenden Marotte seines Herrn ausgesetzt, und seine Ohren Kiefer Penis benahmen sich unaufhörlich dem Diktat des Kolibris entsprechend. Warum blieb Nadir Khan dann bei ihm trotz der Erektionen, die ihn in Gesellschaft Fremder in Verlegenheit brachten, trotz schmerzender Backenzähne und eines Arbeitspensums, das von vierundzwanzig Stunden oft zweiundzwanzig beanspruchte? Nicht – glaube ich –, weil er es für seine dichterische Pflicht hielt, möglichst nahe ans Zentrum der Geschehnisse zu kommen und sie in Literatur zu verwandeln. Auch nicht, weil er für sich selbst Ruhm wollte. Nein: Aber Nadir hatte eins mit meinem Großvater gemein, und das reichte aus. Auch er litt an der Optimismuskrankheit.
Wie Aadam Aziz, wie die Rani von Cooch Naheen verabscheute Nadir Khan die Moslemliga. («Diese Bande von Speichelleckern!», rief die Rani mit ihrer silberhellen Stimme aus, die wie ein Slalomläufer um die Oktaven sauste. «Landbesitzer, die ererbte Privilegien zu verteidigen haben! Was haben die mit Moslems zu tun? Wie Kröten gehen sie zu den Briten und bilden jetzt, da der Kongress sich weigert, Regierungen für sie!» Es war das Jahr der «Raus aus Indien»-Resolution.«Und noch schlimmer», sagte die Rani mit Entschiedenheit,«sie sind verrückt. Weshalb sonst wollten sie Indien teilen?»)
Mian Abdullah, der Kolibri, hatte den Zusammenschluss Freier Islam nahezu im Alleingang aufgebaut. Er forderte die Führer von Dutzenden moslemischer Splittergruppen auf, eine lose zusammengeschlossene Alternative zum Dogmatismus und zu den überkommenen Interessen der Ligaangehörigen zu bilden. Es war ein großartiger Zaubertrick gewesen, denn alle kamen. Das war bei der ersten Versammlung in Lahore; Agra sollte die zweite erleben. Die großen Zelte sollten sich füllen mit Mitgliedern von ländlichen
Bewegungen, städtischen Arbeitersyndikaten, religiösen Fanatikern und regionalen Gruppierungen. Bei dieser Zusammenkunft sollte bestätigt werden, was die erste Versammlung angekündigt hatte: dass die Liga mit ihrer Forderung nach einem geteilten Indien für niemanden als sich selbst sprach. «Sie haben uns den Rücken zugekehrt», besagten die Plakate des Zusammenschlusses, «und jetzt behaupten sie, wir stünden hinter ihnen!» Mian Abdullah war gegen die Teilung.
Ergriffen von der Optimismusepidemie, erwähnte die Gönnerin des Kolibris, die Rani von Cooch Naheen, nie die Wolken am Horizont. Sie wies nie darauf hin, dass Agra eine Hochburg der Moslemliga war, sondern sagte nur: «Aadam, mein Junge, wenn der Kolibri hier seine Versammlung abhalten will, werde ich doch nicht vorschlagen, dass er nach Allahabad geht.» Sie trug, ohne sich zu beklagen oder sich einzumischen, die ganzen Kosten des Ereignisses, aber nicht, das muss gesagt werden, ohne sich Feinde in der Stadt zu machen. Die Rani lebte nicht wie andere indische Fürsten. Anstatt Rebhuhnjagden zu veranstalten, stiftete sie Stipendien. Anstatt Hotelskandale zu verursachen, machte sie Politik. Und so begannen die Gerüchte. «Diese Gelehrten, die sie hat, Mann, jeder weiß doch, dass sie außerplanmäßige Pflichten ableisten müssen. Sie gehen nur im Dunkeln in ihr Schlafzimmer, und sie lässt sie nie ihr fleckiges Gesicht sehen, sondern bannt sie mit ihrer singenden Hexenstimme ins Bett.» Aadam Aziz hatte noch nie an Hexen geglaubt. Er genoss ihren brillanten Freundeskreis, der im Persischen genauso zu Hause war wie im Deutschen. Aber Naseem Aziz, die die Geschichten über die Rani halb glaubte, begleitete ihn nie zum Heim der Prinzessin. «Wenn Gott wollte, dass die Menschen viele Sprachen sprechen», argumentierte sie, «warum hat er uns dann nur eine mitgegeben?»
Und so kam es, dass keiner der Optimisten des Kolibris auf das, was geschah, vorbereitet war. Sie spielten Triff-den-Spucknapf und nahmen die Risse in der Erde nicht zur Kenntnis.
Manchmal schaffen Legenden Wirklichkeit und werden nützlicher als die Tatsachen. Der Legende zufolge also – gemäß dem immer von neuem verfeinerten Klatsch der Greise im Paangeschäft – war an Mian Abdullahs Untergang der Erwerb eines Fächers aus Pfauenfedern am Bahnhof von Agra schuld – und dabei hatte Nadir Khan ihn gewarnt, dass das Unglück bringe. Darüber hinaus hatte Abdullah an diesem Abend der Halbmonde mit Nadir gearbeitet, sodass sie beide den
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