Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
der älteste, dessen Stimme krachte wie ein altes Radio, weil die Jahrzehnte sich an seinen Stimmbändern rieben, «und nie habe ich so viele Leute in so einer schlechten Zeit so fröhlich gesehen. Das ist Teufelswerk.» Es war wirklich ein sehr zäher Virus – allein das Wetter hätte solche Krankheitserreger von der Vermehrung abhalten müssen, da klar wurde, dass der Regen ausgeblieben war. Die Erde wurde rissig. Staub fraß an den Straßenrändern, und an manchen Tagen taten sich mitten in geschotterten Abschnitten riesige klaffende Spalten auf. Die Betelkauer im Paangeschäft hatten begonnen, von Omen zu reden; während sie sich mit ihrem Triff-den-Spucknapf-Spiel beruhigten, spekulierten sie über die zahllosen, namenlosen Gottweißwas, die nun aus der aufreißenden Erde hervorkommen könnten. Anscheinend war einem Sikh aus der Fahrradreparaturwerkstatt in der Hitze eines Nachmittags der Turban vom Kopf gestoßen worden, als sein Haar sich plötzlich ohne Grund aufgerichtet hatte. Und – prosaischer – die Wasserknappheit hatte den Punkt erreicht, an dem die Milchmänner kein sauberes Wasser mehr auftreiben konnten, um die Milch zu panschen ... Weit weg war wieder einmal ein Weltkrieg im Gange. In Agra wurde es immer heißer. Aber immer
noch pfiff mein Großvater. Die alten Männer im Paangeschäft fanden sein Pfeifen unter den gegebenen Umständen ziemlich geschmacklos.
(Und wie sie spucke ich aus und bin über Risse erhaben.)
Mein Großvater saß rittlings auf seinem Fahrrad, den Lederkoffer auf dem Träger befestigt, und pfiff. Trotz einer gereizten Nase spitzten seine Lippen sich. Trotz eines Mals auf der Brust, das sich dreiundzwanzig Jahre lang geweigert hatte zu verblassen, war seine gute Laune ungeschmälert. Luft kam durch seine Lippen und verwandelte sich in Klang. Er pfiff eine alte deutsche Melodie: O Tannenbaum.
Die Optimismusepidemie war von einem einzigen menschlichen Wesen verursacht worden, dessen Namen, Mian Abdullah, nur die Zeitungsleute benutzten. Für alle anderen war es der Kolibri, ein Geschöpf, das unmöglich wäre, existierte es nicht wirklich. «Magier wird Zauberkünstler», schrieben die Zeitungsleute. «Mian Abdullah stieg aus dem berühmten Magiergetto in Delhi empor und wurde zur Hoffnung der hundert Millionen Moslems in Indien.» Der Kolibri war der Gründer, Vorsitzende, Einiger und die treibende Kraft des Zusammenschlusses Freier Islam, und 1942 wurden große Zelte und Tribünen auf dem Marktplatz von Agra errichtet, wo die zweite Jahresversammlung des Zusammenschlusses stattfinden sollte. Mein Großvater, der zweiundfünfzig Jahre alt war und dessen Haar infolge der Jahre und anderer Heimsuchungen weiß geworden war, hatte angefangen zu pfeifen, als er am Marktplatz vorbeikam. Nun legte er sich auf seinem Fahrrad in die Kurven, schnitt sie in einem eleganten Winkel, schlängelte sich zwischen Kuhfladen und Kindern durch ... und erzählte zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort seiner Freundin, der Rani von Cooch Naheen: «Am Anfang habe ich mich als Kaschmiri gefühlt und war nicht gerade ein feuriger Moslem. Dann erhielt ich eine Quetschung auf der Brust, die mich zu einem Inder machte. Ich bin immer noch kein richtiger Moslem, aber ich bin unbedingt für Abdullah. Er kämpft meinen
Kampf.» Seine Augen waren immer noch so blau wie der kaschmirische Himmel ... er kam zu Hause an, und obwohl seine Augen noch einen Schimmer der Befriedigung zurückbehielten, hörte das Pfeifen auf, denn in dem Hof voll bösartiger Gänse wartete meine Großmutter, Naseem Aziz, mit missbilligender Miene auf ihn. Er hatte den Fehler begangen, sie in Fragmenten zu lieben, die sich nun vereinigt und in die gewaltige Figur verwandelt hatten, die sie immer bleiben würde und die immer unter dem merkwürdigen Titel Ehrwürdige Mutter bekannt war.
Sie war eine frühzeitig gealterte breite Frau geworden, die zwei enorme, Hexenzitzen ähnliche Muttermale im Gesicht hatte, und sie lebte in einer unsichtbaren, selbst geschaffenen Festung, einer eisenbewehrten Zitadelle von Traditionen und Gewissheiten. Etwas früher in demselben Jahr hatte Aadam Aziz lebensgroße Fotografien seiner Familie bestellt, die er im Wohnzimmer an die Wand hängen wollte; die drei Mädchen und die zwei Jungen hatten auch pflichtbewusst posiert, aber Ehrwürdige Mutter hatte rebelliert, als sie an die Reihe kam. Schließlich hatte der Fotograf versucht, sie zu erwischen, ohne dass sie es merkte, aber sie ergriff
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