Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
als die beteiligten Armeen. Das ist nur natürlich.» Er begann, Rikschas für seine Visiten zu nehmen. Hamdard, der Rikschabesitzer, begann sich Sorgen um ihn zu machen.
Die Rani von Cooch Naheen schickte Boten, die sich bei der Ehrwürdigen Mutter für ihn verwenden sollten. «Gibt es in Indien nicht genug hungernde Menschen?», fragten die Boten, und Naseem
entsandte einen Basiliskenblick, der bereits zur Legende wurde. Die Hände im Schoß gefaltet, eine Dupatta aus Musselin knickerig eng um den Kopf gewunden, starrte sie die Besucher aus lidlosen Augen durchdringend an und brachte sie aus der Fassung. Ihre Stimmen wurden zu Stein, ihre Herzen zu Eis, und mit fremden Männern allein in einem Zimmer, triumphierte meine Großmutter, umgeben von niedergeschlagenen Augen. «Genug, wieheißtesnoch?», krähte sie. «Nun gut, vielleicht. Aber vielleicht auch nicht.»
Doch in Wahrheit war Naseem Aziz sehr beunruhigt, denn während Aziz’ Hungertod einwandfrei beweisen würde, dass ihre Weltanschauung der seinen überlegen war, hatte sie keine Lust, des bloßen Prinzips wegen zur Witwe zu werden. Aber sie konnte keinen Ausweg aus der Situation sehen, der nicht zur Folge gehabt hätte, dass sie nachgab und das Gesicht verlor, und nachdem meine Großmutter gelernt hatte, ihr Gesicht zu entblößen, widerstrebte es ihr sehr, etwas davon zu verlieren.
«Werde krank, warum nicht?» Alia, das kluge Kind, fand die Lösung. Ehrwürdige Mutter blies zum taktischen Rückzug, verkündete, sie habe Schmerzen, absolut mörderische Schmerzen, wieheißtesnoch, und legte sich ins Bett. In ihrer Abwesenheit reichte Alia ihrem Vater den Ölzweig in Form einer Schale Hühnersuppe. Zwei Tage später erhob sich Ehrwürdige Mutter (nachdem sie es zum ersten Mal in ihrem Leben abgelehnt hatte, sich von ihrem Mann untersuchen zu lassen), trat ihre Herrschaft wieder an und gab Aziz, achselzuckend die Entscheidung ihrer Tochter hinnehmend, sein Essen, als sei es eine ganz unbedeutende Angelegenheit.
Das war zehn Jahre vorher; aber 1942 verfallen die alten Männer im Paangeschäft beim Anblick des pfeifenden Arztes immer noch in kichernde Erinnerungen an die Zeit, als seine Frau ihn beinah dazu gebracht hatte, sich durch einen Zaubertrick in nichts aufzulösen, obwohl er nicht wusste, wie er zurückkommen sollte. Bis spät in den Abend stoßen sie einander an mit: «Erinnert ihr euch, als ...» und: «Vertrocknet wie ein Skelett an der Wäscheleine! Er konnte
noch nicht einmal Fahrrad ...» und: «Ich sage dir, Baba, diese Frau konnte schreckliche Dinge tun. Ich habe gehört, dass sie sogar die Träume ihrer Töchter träumen konnte, bloß um zu wissen, was sie im Schilde führten!» Aber wenn der Abend sich herabsenkt, hören die Rippenstöße auf, denn es ist Zeit für den Wettbewerb. Rhythmisch, schweigend bewegen sich ihre Kiefer, dann spitzen sich plötzlich alle Lippen, aber es kommt kein durch die Luft erzeugter Klang heraus. Kein Pfeifen, sondern ein langer roter Strahl von Betelsaft entweicht stattdessen durch altersschwache Lippen und bewegt sich mit unfehlbarer Genauigkeit auf einen alten Spucknapf aus Messing zu. Es gibt viel Schenkelklopfen und selbstgefällige Äußerungen wie «wah, wah, Sir!» und «absoluter Meisterschuss!» ... Um die alten Herren herum gibt sich die Stadt planlosen abendlichen Freizeitbeschäftigungen hin. Kinder spielen Kabaddi und mit Reifen und malen Bärte auf die Plakate von Mian Abdullah. Und nun stellen die alten Männer den Spucknapf auf die Straße, immer weiter weg von der Stelle, an der sie hocken, und zielen mit immer länger werdendem Strahl darauf. Immer noch fliegt die Flüssigkeit geradewegs ins Ziel. «Oh, gut getroffen, Yara!» Die Straßenjungen machen sich einen Spaß daraus, unter und über diesem roten Schwall wegzuspringen, setzen diese Mutprobe über die ernsthafte Kunst des Triff-den-Spucknapf... Aber hier ist ein Stabswagen der Armee, der die Straßenjungen zerstreut, als er näher kommt ... hier Brigadegeneral Dodson, der Militärkommandant der Stadt, der vor Hitze umkommt ... und hier sein Adjutant Major Zulfikar, der ihm ein Handtuch reicht. Dodson tupft sich das Gesicht ab, Straßenjungen zerstreuen sich, das Auto stößt den Spucknapf um. Eine dunkelrote Flüssigkeit mit Klümpchen wie Blut gerinnt im Staub der Straße zu einer roten Hand und weist anklagend auf den Radj, der sich zurückzieht.
Erinnerung an ein stockfleckiges Foto (vielleicht das Werk desselben
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