Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Neongöttin. Und meine Chutneys und Kasaundis stehen schließlich in einem Zusammenhang mit meinem nächtlichen Geschreibsel – tags inmitten der Pickleskessel, nachts inmitten dieser Bogen, verbringe ich meine Zeit mit dem großen Werk des Konservierens. Erinnerung wird genau wie Obst vor der Verderbnis der Uhren gerettet.
Aber hier neben meinem Ellbogen ist Padma, die mich in die Welt des geradlinigen Erzählens, in das Universum des Was-geschah-danach zurückscheucht. «Bei diesem Tempo», beschwert sich Padma, «bist du zweihundert Jahre alt, ehe es dir gelingt, von deiner Geburt zu erzählen.» Sie trägt Gleichgültigkeit zur Schau, streckt eine unbekümmerte Hüfte in meine Richtung, doch sie täuscht mich nicht. Ich weiß jetzt, dass sie trotz all ihrer Einsprüche angebissen hat. Es besteht kein Zweifel daran: Meine Geschichte hat sie bei der Gurgel gepackt, sodass sie urplötzlich aufgehört hat, mich zu drängeln, ich solle nach Hause gehen, häufiger baden, meine essiggetränkten Kleider wechseln, selbst nur einen Augenblick lang diese finstere Picklesfabrik verlassen, in der ständig der Geruch von Gewürzen in der Luft schäumt ... nun schlägt meine Dunggöttin einfach ein Feldbett in der Ecke dieses Büros auf und bereitet mein Essen auf zwei geschwärzten Gaskochern zu. Sie unterbricht mich beim Schreiben im Licht der Schwenklampe nur, um mich zurechtzuweisen:«Du solltest dich lieber beeilen, sonst stirbst du, ehe du es
schaffst, geboren zu werden.» Den angemessenen Stolz des erfolgreichen Geschichtenerzählers niederkämpfend, versuche ich sie zu erziehen. «Dinge – sogar Menschen – haben eine Art, einander zu durchdringen», erkläre ich, «wie Düfte beim Kochen. Ilse Lubins Selbstmord beispielsweise floß in den alten Aadam ein und saß dort in einer Pfütze, bis Aadam Gott erblickte. Ähnlich», setze ich ernsthaft an, «ist die Vergangenheit in mich hineingetröpfelt ... wir können sie also nicht ignorieren ...» Ihr Achselzucken, das ihre Brust in hübsch anzusehende Schwingungen versetzt, unterbricht mich. «Für mich ist es eine verrückte Art, deine Lebensgeschichte zu erzählen», ruft sie, «wenn du noch nicht einmal bis dahin kommst, wo dein Vater deine Mutter kennen gelernt hat.»
... Und ganz gewiss dringt Padma in mich ein. Während aus meinem aufgesprungenen Körper Geschichte ausströmt, dringt mein Lotos, der mit beiden Beinen im Leben steht, leise herein mit seinem widersinnigen Aberglauben, seiner widersprüchlichen Liebe zum Legendären ... deshalb ist es auch angebracht, gleich die Geschichte des Todes von Mian Abdullah zu erzählen. Der dem Untergang geweihte Kolibri: eine Legende aus unserer Zeit.
... Und Padma ist eine großzügige Frau, denn sie bleibt in diesen letzten Tagen bei mir, obwohl ich nicht viel für sie tun kann. Es stimmt – und auch das sollte gesagt werden, ehe ich mich in die Erzählung von Nadir Khan stürze –, ich bin entmannt. Trotz Padmas vielzähliger und vielfältiger Begabungen und Bestrebungen kann ich nicht in sie eindringen, noch nicht einmal, wenn sie ihren linken Fuß auf meinen rechten legt, ihr rechtes Bein um meine Taille schlingt, ihren Kopf meinem zuneigt und kosende Laute von sich gibt; noch nicht einmal, wenn sie mir ins Ohr flüstert. «Jetzt, wo du mit dem Schreiben fertig bist, wollen wir doch mal sehen, ob wir’s nicht schaffen, dass auch dein anderer Stift funktioniert!» Einerlei, was sie alles versucht, ich kann ihren Spucknapf nicht treffen.
Genug Bekenntnisse. Mich dem unentrinnbaren Druck Padmas mit ihrem Was-geschah-danach-Ismus beugend und mich an die
begrenzte Zeitdauer erinnernd, die mir zur Verfügung steht, mache ich einen Sprung vom Jod nach vorn und lande im Jahr 1942. (Auch ich bin erpicht darauf, meine Eltern zusammenzubringen.)
Es scheint, dass mein Großvater, Doktor Aadam Aziz, sich im Spätsommer dieses Jahres eine höchst gefährliche Form von Optimismus zuzog. Wenn er durch Agra radelte, pfiff er durchdringend, falsch, aber sehr glücklich. Damit war er keineswegs allein, denn diese ansteckende Krankheit war in jenem Jahr trotz der energischen Bemühungen der Behörden, sie auszurotten, in ganz Indien ausgebrochen, und es mussten drastische Schritte unternommen werden, ehe sie unter Kontrolle gebracht war. Die alten Männer im Paangeschäft oben in der Cornwallis Road kauten Betel und argwöhnten einen faulen Zauber. «Ich lebe schon doppelt so lange, wie ich eigentlich sollte», sagte
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