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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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armen Fotografen mit dem eingeschlagenen Schädel, den seine
lebensgroßen Fotos beinahe das Leben gekostet hätten): Aadam Aziz, vor Optimismusfieber glühend, schüttelt einem ungefähr sechzigjährigen Mann die Hand, einem ungeduldigen, munteren Typ, dem eine Strähne weißen Haars wie eine freundliche Narbe in die Stirn fällt. Es ist Mian Abdullah, der Kolibri. («Sehen Sie, Doktor Sahib, ich halte mich fit. Wollen Sie mir einmal in den Bauch boxen? Versuchen Sie’s, versuchen Sie’s doch. Ich bin tipptopp in Form!» ... Auf dem Foto verbergen die Falten eines losen weißen Hemdes den Bauch, und die Faust meines Großvaters ist nicht geballt, sondern wird von der Hand des Exmagiers verschlungen.) Und wohlwollend sieht hinter ihnen die Rani von Cooch Naheen zu, die weiße Flecken bekam, eine Krankheit, die in die Geschichte einging und sich kurz nach der Unabhängigkeit enorm ausbreitete ...«Ich bin das Opfer», flüstert die Rani zwischen fotografierten Lippen, die sich kein einziges Mal bewegen, «das unselige Opfer meiner sich kreuzenden kulturellen Interessen. Meine Haut ist der äußere Ausdruck für den Internationalismus meines Geistes.» Ja, es findet eine Unterhaltung statt auf diesem Foto: Die Optimisten, ausgezeichneten Bauchrednern ähnlich, treffen ihren Führer. Neben der Rani – hören Sie nun aufmerksam zu: Geschichte und Ahnenstamm treffen gleich zusammen! – steht ein sonderbarer Kerl, weich und füllig, mit Augen wie stehende Gewässer und Haaren, so lang wie die eines Dichters. Nadir Khan, der Privatsekretär des Kolibris. Wären seine Füße durch den Schnappschuss nicht erstarrt, würde er verlegen von einem Bein aufs andere treten. Durch sein törichtes steifes Lächeln verkündet er: «Es ist wahr, ich habe Verse geschrieben ...» Woraufhin Mian Abdullah ihn unterbricht; mit offenem Mund, in dem spitzige Zähne schimmern, dröhnt er: «Aber was für Verse! Seite um Seite ohne einen einzigen Reim ...!» Und die Rani, gütig: «Ein Modernist also?» Und Nadir, schüchtern: «Ja.» Welche Spannung nun in der stummen, unbewegten Szene liegt! Welch bissiges Hänseln, als der Kolibri spricht: «Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Kunst sollte erhebend sein; sie sollte
uns an unser ruhmreiches literarisches Erbe erinnern!» ... Und ist das ein Schatten oder ein Ausdruck des Missfallens auf der Stirn seines Sekretärs? ... Nadirs Stimme, die ganz leise aus dem verblassenden Foto spricht: Ach glaube nicht an hohe Kunst, Mian Sahib. Die Kunst muss nun über den Kategorien stehen; meine Lyrik und – oh – das Spiel Triff-den-Spucknapf sind gleichwertig.» ... Nun scherzt die Rani, freundlich, wie sie ist. «Gut, ich werde vielleicht ein Zimmer fürs Paanessen und Spucknapfzielen reservieren. Ich habe einen prächtigen silbernen Spucknapf mit Einlegearbeit aus Lapislazuli, und Sie müssen alle kommen und üben. Sollen die Wände von unserem Auswurf bespritzt sein! Wenigstens sind es dann anständige Flecken.» Und jetzt sind dem Foto die Worte ausgegangen; jetzt fällt meinem inneren Auge auf, dass der Kolibri die ganze Zeit auf die Tür gestarrt hat, die sich hinter der Schulter meines Großvaters ganz am Rand des Bildes befindet. Hinter der Tür ruft die Geschichte. Der Kolibri hat es eilig, wegzukommen ... aber er ist bei uns gewesen, und seine Anwesenheit hat uns zwei Fäden beschert, die mich mein ganzes Leben begleiten werden: den Faden, der mich ins Getto der Magier führt; und den Faden, der die Geschichte von Nadir, dem reimlosen, verblosen Dichter, und einem unbezahlbaren silbernen Spucknapf erzählt.
     
    «Was für ein Unsinn», sagt unsere Padma, «wie kann ein Bild reden? Hör jetzt auf, du bist sicher zu müde zum Denken.» Aber als ich ihr sage, dass Mian Abdullah die seltsame Eigenart hatte, zu summen, ohne Unterlass zu summen, auf eine seltsame Weise zu summen, weder melodisch noch unmelodisch, doch irgendwie mechanisch, wie eine Maschine oder ein Dynamo summt, schluckt sie das ganz leicht und sagt verständnisvoll: «Ja, wenn er ein so energischer Mann war, überrascht mich das nicht.» Sie ist wieder ganz Ohr, also erwärme ich mich für mein Thema und berichte, dass Mian Abdullahs Summen mit seinem Arbeitstempo stieg und fiel. Das Summen konnte so tief abfallen, dass man Zahnschmerzen bekam, und
wenn es zu seiner höchsten, fiebrigsten Tonlage anstieg, vermochte es bei jedem, der sich in unmittelbarer Nähe befand, eine Erektion zu erzeugen. («Arré baap»,

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