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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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noch halben (und deshalb einigermaßen leichten) Jungen eine schmale Wendeltreppe hinauf in das kühle weiße Minarett, wo Shaheed von Glühbirnen plapperte, während rote Ameisen und schwarze Ameisen um einen toten Kakerlaken kämpften. Sie fochten entlang der Verschalungsrillen in dem roh gegossenen Betonfußboden. Unten, zwischen verkohlten Häusern, zerbrochenem Glas und Rauchdunst, tauchten ameisenähnliche Menschen auf und bereiteten sich auf den Frieden vor; die Ameisen jedoch ignorierten die Ameisenähnlichen und kämpften weiter. Und der Buddha: Er stand reglos, blickte milchig hinunter und um sich, nachdem er sich zwischen die obere Hälfte von Shaheed und das einzige Möbelstück in diesem Horst gestellt hatte, einen niedrigen Tisch, auf dem ein Grammophon stand, das an einen Lautsprecher angeschlossen war. Der Buddha bewahrte seinen halbierten Gefährten vor dem desillusionierenden Anblick dieses mechanischen Muezzins, dessen Aufruf zum Gebet immer an derselben Stelle einen Kratzer hatte, zog aus den Falten seines formlosen Gewands
einen glitzernden Gegenstand: und richtete seinen milchigen Blick auf den silbernen Spucknapf. Er stand da, in Gedanken verloren, als er von Schreien aufgeschreckt wurde, blickte auf und sah einen verlassenen Kakerlaken. (Blut war entlang der Verschalungsrillen geflossen; Ameisen waren dieser dunklen, zähflüssigen Spur gefolgt und an der lecken Stelle eingetroffen; und Shaheed drückte seinen Zorn darüber aus, dass er das Opfer nicht nur eines, sondern zweier Kriege wurde.)
    Als er ihm zu Hilfe kam und seine Füße auf den Ameisen tanzten, stieß der Buddha mit dem Ellbogen gegen einen Schalter; das Lautsprechersystem wurde in Gang gesetzt, und danach vergaßen die Leute nie wieder, wie eine Moschee die schreckliche Qual des Krieges hinausgeschrien hatte.
    Es dauerte nur wenige Augenblicke; dann war es still. Shaheeds Kopf sank vornüber. Und der Buddha fürchtete, entdeckt zu werden, nahm seinen Spucknapf an sich und stieg in die Stadt hinab, als die indische Armee eintraf. Shaheed, dem das nun nichts mehr ausmachte, ließ ich als Beitrag zum Friedensmahl der Ameisen zurück und ging in die frühmorgendlichen Straßen hinaus, um General Sam willkommen zu heißen.
    Im Minarett hatte ich zwar milchig auf meinen Spucknapf geblickt, doch der Geist des Buddhas war nicht müßig gewesen. Er enthielt vier Wörter, die auch Shaheeds obere Hälfte immer wieder wiederholt hatte, bis die Ameisen kamen: dieselben vier nach Zwiebeln stinkenden Wörter, die mich einst an Ayooba Balochs Schulter zum Weinen gebracht hatten – bis die Biene summte ... «Es ist nicht fair», dachte der Buddha und dann, wie ein Kind, noch einmal und noch einmal: «Es ist nicht fair», und noch einmal und noch einmal.
    Shaheed hatte endlich seinem Namen Ehre gemacht und somit den Herzenswunsch seines Vaters erfüllt; doch der Buddha konnte sich an den seinen immer noch nicht erinnern.
     
    Wie der Buddha seinen Namen wiedererlangte: Einst, vor langer Zeit, an einem anderen Unabhängigkeitstag, war die Welt safrangelb und grün gewesen. An diesem Morgen waren die Farben Grün, Rot und Gold. Und in den Städten rief man «Jai Bangla!». Und Frauenstimmen sangen «Unser goldenes Bengalen», was ihre Herzen vor Entzücken trunken machte ... Im Stadtzentrum erwartete General Tiger Niazi auf dem Podium seiner Niederlage General Manekshaw. (Biographische Details: Sam war Parse. Er kam aus Bombay. Leute aus Bombay hatten an jenem Tag ihre große Stunde.) Und inmitten von Grün und Rot und Gold wurde der Buddha in seinem formlosen, anonymen Gewand von den Massen angerempelt, und dann kam Indien. Indien, mit Sam an der Spitze.
    War es General Sams Idee? Oder sogar ein Gedanke Indiras? – Unter Umgehung dieser müßigen Fragen stelle ich nur fest, dass der indische Marsch auf Dacca weit mehr als eine bloße Militärparade war; wie es einem Triumph zukommt, war er mit zusätzlichen Spektakeln garniert. Ein spezieller IAF-Truppentransporter war mit einhundertundeinem der besten Unterhaltungskünstler und Zauberer, die Indien zur Verfügung stellen konnte, nach Dacca geflogen. Sie kamen aus dem berühmten Magiergetto in Delhi, und viele von ihnen hatten zu diesem Anlass die erinnerungsträchtige Uniform der indischen Armee angezogen, sodass viele Bewohner Daccas glaubten, der Sieg der Inder sei von vornherein unvermeidlich gewesen, da sogar ihre uniformierten Jawans Zauberer ersten Ranges waren. Die Zauberer und die

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