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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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ein Mensch stirbt? Wer, meine Herren, weiß, warum?»

Sam und der Tiger
    Manchmal müssen Berge versetzt werden, ehe alte Kameraden wieder vereint werden können. Am 15. Dezember 1971 ergab sich Tiger Niazi in der Hauptstadt des gerade befreiten Staates Bangladesch seinem alten Kumpel Sam Manekshaw; während ich mich meinerseits den Umarmungen eines Mädchens hingab, das untertassengroße Augen, einen Pferdeschwanz wie ein langes glänzendes schwarzes Seil und Lippen hatte, die zu jener Zeit noch nicht zum charakteristischen Schmollmund geworden waren. Diese Wiedervereinigungen kamen nicht leicht zustande, und als Geste der Hochachtung für alle, die sie ermöglichten, unterbreche ich meine Erzählung kurz, um die Wiesos und Wozus darzulegen.
    Lassen Sie mich also ausholen: Wenn Yahya Khan und Z.A. Bhutto beim Coup vom 25. März nicht unter einer Decke gesteckt hätten, wäre ich weder in Zivilkleidung nach Dacca eingeflogen worden, noch wäre aller Wahrscheinlichkeit nach General Tiger Niazi im Dezember in der Stadt gewesen. Weiterhin war das indische Eingreifen in den Disput um Bangladesch auch die Folge sich wechselseitig bedingender großer Kräfte. Wären nicht zehn Millionen Menschen über die Grenze nach Indien gegangen und hätten die Regierung in Delhi gezwungen, 200 000 000 Dollar pro Monat für Flüchtlingslager auszugeben – der ganze Krieg von 1965, dessen heimlicher Zweck die Auslöschung meiner Familie gewesen war, hatte sie nur 70 000 000 Dollar gekostet! -, hätten indische Soldaten, angeführt von General Sam, vielleicht nie die Grenze in umgekehrter Richtung überquert. Doch Indien kam auch noch aus anderen Gründen: Wie ich von den kommunistischen Magiern erfahren sollte, die im Schatten der Freitagsmoschee
in Delhi lebten, war die Regierung in Delhi tief beunruhigt über den nachlassenden Einfluss von Mujibs Awami-Liga und die wachsende Popularität der revolutionären Mukti Bahini; Sam und der Tiger trafen sich in Dacca, um zu verhindern, dass die Bahini an Macht gewannen. Hätte es die Mukti Bahini also nicht gegeben, hätte Parvati-die-Hexe vielleicht nie die indischen Truppen auf ihrem«Befreiungsfeldzug» begleitet ... Aber selbst das ist noch nicht die ganze Erklärung. Ein dritter Grund für das Eingreifen Indiens war die Befürchtung, dass die Unruhen in Bangladesch, wenn sie nicht rechtzeitig eingedämmt würden, sich über die Grenze nach Westbengalen ausbreiteten; so verdanken Sam und der Tiger und auch Parvati und ich unsere Begegnung zumindest teilweise den aufrührerischen Elementen in der westbengalischen Politik: die Niederlage des Tigers war nur der Anfang eines Feldzugs gegen die Linken in Kalkutta und Umgebung.
    Indien kam, das stand jedenfalls fest; und dafür, dass es so rasant kam – denn in nur drei Wochen hatte Pakistan die Hälfte seiner Marine, ein Drittel seiner Armee, ein Viertel seiner Luftwaffe und schließlich, nachdem der Tiger kapituliert hatte, mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung verloren –, gebührt den Mukti Bahini einmal mehr Dank, denn da sie, vielleicht aus Naivität, nicht begriffen, dass das Vorrücken der Inder gleichermaßen ein gegen sie gerichtetes taktisches Manöver wie eine Schlacht gegen die Besatzungstruppen des Westflügels war, setzten die Bahini General Manekshaw über pakistanische Truppenbewegungen und über die Stärken und Schwächen des Tigers in Kenntnis; Dank gebührt auch Tschou Enlai, der sich (trotz Bhuttos dringender Gesuche) weigerte, Pakistan materielle Hilfe im Krieg zu leisten. Da ihm chinesische Waffen verweigert wurden, kämpfte Pakistan mit amerikanischen Gewehren, amerikanischen Panzern und Flugzeugen; als Einziger auf der ganzen Welt war der amerikanische Präsident entschlossen, zu Pakistan hin zu «kippen». Während Henry A. Kissinger für die Sache Yahya Khans plädierte, arrangierte derselbe Yahya insgeheim den
berühmten Staatsbesuch des Präsidenten in China ... große Kräfte waren also am Werk, um meine Wiedervereinigung mit Parvati und die Sams mit dem Tiger zu verhindern, doch trotz des kippenden Präsidenten war in drei kurzen Wochen alles vorbei.
    Am Abend des 14. Dezember umkreisten Shaheed Dar und der Buddha die Randzonen der belagerten Stadt Dacca; doch die Nase des Buddhas war (Sie werden es nicht vergessen haben) in der Lage, mehr zu erschnüffeln als die meisten anderen. Seiner Nase folgend, die Sicherheit und Gefahr riechen konnte, schmuggelten sie sich durch die indischen Linien und

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