Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
betraten die Stadt im Schutze der Nacht.
Während sie verstohlen durch Straßen zogen, in denen niemand außer ein paar hungernden Bettlern zu sehen war, schwor der Tiger, dass er bis zum letzten Mann kämpfen werde, doch am nächsten Tag kapitulierte er stattdessen. Was man nicht weiß: ob der letzte Mann dankbar war, dass er verschont geblieben war, oder verärgert darüber, dass er die Gelegenheit, in den Kampfergarten zu kommen, verpasst hatte.
Und so kehrte ich in jene Stadt zurück, in der Shaheed und ich in den letzten Stunden vor den Wiedervereinigungen viele Dinge sahen, die nicht wahr waren, die nicht möglich waren, denn unsere Jungens hätten sich nicht so schlecht benommen, hätten sich nicht so schlecht benehmen können; wir sahen, wie bebrillte Männer mit Eierköpfen in Nebenstraßen erschossen wurden, wir sahen, wie die Intelligenzija der Stadt zu Hunderten massakriert wurde, doch es war nicht wahr, weil es nicht wahr sein konnte, der Tiger war schließlich ein anständiger Kerl, und unsere Jawans waren zehn Babus wert. Wir zogen durch die unmögliche Sinnestäuschung der Nacht und versteckten uns in Türeingängen, während Feuer aufblühten wie Blumen und mich daran erinnerten, wie das Äffchen immer Schuhe angezündet hatte, um ein wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In nicht gekennzeichneten Gräbern wurden durchschnittene Kehlen begraben, und Shaheed begann
sein: «Nein, Buddha – so was, Allah, man kann seinen Augen nicht trauen – nein, es ist nicht wahr, wie kann es – Buddha, sag, was ist mit meinen Augen?» Und endlich sprach der Buddha, weil er wusste, dass Shaheed nicht hören konnte. «O Shaheeda», sagte er und offenbarte damit, wie wählerisch er war, «manchmal muss ein Mensch sich aussuchen, was er sehen will und was nicht; schau weg, schau jetzt nicht hin.» Doch Shaheed starrte auf einen Marktplatz, auf dem Ärztinnen mit dem Bajonett erstochen wurden, ehe sie vergewaltigt wurden, und wieder vergewaltigt, ehe sie erschossen wurden. Über ihnen und hinter ihnen starrte das kühle weiße Minarett einer Moschee blind auf die Szene.
Als redete er zu sich selbst, sagte der Buddha: «Es wird Zeit, dass wir uns überlegen, wie wir unsere eigene Haut retten; Gott weiß, warum wir zurückgekommen sind.» Der Buddha trat in den Eingang eines verlassenen Hauses, das nur noch eine zerbrochene, zerbröselnde Schale war und das einmal einen Teeladen, eine Fahrradreparaturwerkstatt, ein Freudenhaus und einen winzigen Treppenabsatz beherbergt hatte, auf dem ein Notar gesessen haben musste, denn sein niedriges Pult war noch da, auf dem er eine am unteren Rand mit Draht eingefasste Brille zurückgelassen hatte, die im Stich gelassenen Siegel und Stempel waren noch da, dank deren er einst mehr gewesen war als bloß ein alter Niemand – Stempel und Siegel, die ihn zu einem Richter über Wahrheit und Unwahrheit gemacht hatten. Der Notar war nicht da, deshalb konnte ich ihn nicht bitten, zu bestätigen, was geschah, ich konnte keine eidesstattliche Erklärung abgeben; doch auf der Matte hinter seinem Pult lag ein weites Kleidungsstück, ähnlich einer Dschellaba, und ohne länger zu warten, zog ich meine Uniform mitsamt dem Hündinnenabzeichen der HESPNAT-Einheiten aus und wurde anonym, ein Deserteur in einer Stadt, deren Sprache ich nicht sprechen konnte.
Shaheed Dar jedoch blieb auf der Straße; im ersten Licht des Morgens beobachtete er, wie Soldaten von dem was-nicht-geschehen-war
weghuschten; und dann kam die Granate. Ich, der Buddha, war immer noch in dem leeren Haus, aber Shaheed war nicht von Mauern geschützt.
Wer kann sagen, warum wie wer; doch geworfen wurde die Granate mit Sicherheit. In jenem letzten Augenblick seines nicht zweigeteilten Lebens wurde Shaheed plötzlich von einem unwiderstehlichen Drang erfasst, nach oben zu sehen ... danach, in der Unterkunft des Muezzins, erzählte er dem Buddha: «So komisch, Allah – der Granatapfel – in meinem Kopf, genauso, größer und leuchtender als je zuvor – weißt du, Buddha, wie eine Glühbirne – Allah, was konnte ich schon tun, ich hab’ hingesehen!» Und ja, da war sie, hing direkt über seinem Kopf, die Granate seiner Träume, fiel fiel fiel, explodierte in der Höhe seiner Hüfte und pustete seine Beine in einen anderen Teil der Stadt. Als ich bei ihm ankam, war Shaheed bei Bewusstsein, trotz der Zweiteilung, und zeigte nach oben: «Bring mich dorthin, Buddha, ich will’s, ich will.» So trug ich den jetzt nur
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