Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Kriegsgefangene. Ich wurde unterdessen der freiwillige Gefangene der indischen Zauberer, denn Parvati zog mich mit den Worten:
«Jetzt, wo ich dich gefunden hab’, lass’ ich dich nicht wieder gehen», in den Umzug hinein.
An jenem Abend leerten Sam und der Tiger ein Gläschen nach dem anderen und schwelgten in Erinnerungen an die alten Zeiten in der britischen Armee. «Ich muss schon sagen, Tiger», sagte Sam Manekshaw, «es war verflucht anständig von dir, dass du kapituliert hast.» Und der Tiger: «Sam, du hast dich verdammt wacker geschlagen.» Eine winzige Wolke zieht über General Sams Gesicht: «Hör mal, alter Kumpel: man hört so verdammt scheußliche Lügen. Gemetzel, alter Knabe, Massengräber, Sondereinheiten namens HESPNAT oder so ein Quatsch, den man sich ausgedacht haben soll, um jeglichen Widerstand auszumerzen ... kein wahres Wort daran, vermute ich?» Und der Tiger: «Hundeeinheit zwecks Spurensicherung und nachrichtendienstlicher Tätigkeit? Nie davon gehört. Da haben sie dir einen Bären aufgebunden, alter Knabe. Da gibt’s ein paar wirklich schlechte Informanten auf beiden Seiten. Nein, lächerlich, verdammt lächerlich, wenn ich so sagen darf.» «Hab’ ich mir gedacht», sagt General Sam. «Ich muss schon sagen, verdammt schön, dich zu sehen, Tiger, alter Schurke!» Und der Tiger:«Ist schon Jahre her, was, Sam? ’ne verdammt lange Zeit.»
... Während alte Freunde in Offiziersmessen «Auld Long Syne» sangen, stahl ich mich aus Bangladesch, aus meiner Zeit in Pakistan, davon. «Ich schaffe dich raus», sagte Parvati, nachdem ich ihr alles erklärt hatte. «Willst du, dass es ganz, ganz heimlich passiert?»
Ich nickte: «Ganz, ganz heimlich.»
Anderswo in der Stadt bereiteten sich dreiundneunzigtausend Soldaten darauf vor, in Kriegsgefangenenlager abtransportiert zu werden; doch mich ließ Parvati-die-Hexe in einen Weidenkorb mit fest schließendem Deckel steigen. Sam Manekshaw war gezwungen, seinen alten Freund, den Tiger, in Schutzhaft zu nehmen, doch mir versicherte Parvati-die-Hexe: «So schnappen sie dich nie.»
Hinter einer Kaserne, wo die Zauberer auf ihren Rücktransport nach Delhi warteten, stand Picture Singh, der Bezauberndste
Mann der Welt, Wache, als ich an jenem Abend in den Korb der Unsichtbarkeit kletterte. Wir lungerten lässig herum, rauchten Biris und warteten, bis keine Soldaten mehr in Sicht waren, während Picture Singh mir die Geschichte seines Namens erzählte. Vor zwanzig Jahren hatte ein Fotograf von Easthman-Kodak eine Aufnahme von ihm gemacht, auf der seine Lippen sich lächelnd kräuselten und Schlangen sich um ihn ringelten; dieses Porträt tauchte später in jeder zweiten Kodak-Reklame und in jeder zweiten Geschäftsauslage in Indien auf, und damals hatte der Schlangenbeschwörer seinen Beinamen angenommen. «Was meinen Sie, Hauptmann?», bellte er liebenswürdig. «Ein schöner Name, nicht? Hauptmann, was soll man da machen, ich kann mich noch nicht einmal erinnern, welchen Namen ich vorher gehabt hab’, welchen Namen Vater und Mutter mir gegeben haben! Schön blöd, nicht, Hauptmann?» Aber Picture Singh war nicht blöd, und er konnte weit mehr als bloß bezaubern. Plötzlich verlor seine Stimme ihren lässigen, schläfrigen, gutmütigen Tonfall; er flüsterte: «Jetzt! Jetzt, Hauptmann, ek dum, ein bisschen plötzlich!» Parvati machte den Deckel ihres geheimnisvollen Weidenkorbs auf; ich tauchte kopfüber hinein. Der Deckel klappte wieder zu und sperrte das letzte Tageslicht aus.
Picture Singh flüsterte: «Okay, Hauptmann – ausgezeichnet!» Und Parvati beugte sich ganz nah über mich; ihre Lippen mussten die Außenseite des Korbs berühren. Was Parvati-die-Hexe durch Flechtwerk flüsterte:
«He, du, Saleem, stell dir bloß vor! Du und ich, Herr – Mitternachtskinder, Yaar! Das ist doch etwas, oder etwa nicht?»
Das ist doch etwas ... Saleem, in die Dunkelheit des Flechtwerks eingehüllt, wurde an Mitternächte längst vergangener Jahre erinnert, an kindliche Kämpfe, bei denen um Zweck und Bedeutung gerungen wurde; von Sehnsucht nach Vergangenem überwältigt, begriff ich immer noch nicht, was das Etwas war. Dann flüsterte Parvati noch ein paar Worte, und in dem Korb der Unsichtbarkeit
löste ich, Saleem Sinai, mich samt meinem losen anonymen Gewand auf der Stelle in dünne Luft auf.
«Aufgelöst? Wie aufgelöst, was aufgelöst?» Padmas Kopf ruckt hoch; Padmas Augen starren mich verblüfft an. Achselzuckend wiederhole ich
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