Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Daldakanister leere Kisten die im Stich gelassenen Säcke der verängstigten Illusionisten, und über meine Schulter sehe ich durch die trübe Nacht des Notstands, dass all das nur ein Tarnmanöver, eine Nebenhandlung gewesen ist, denn durch die Konfusion des Krawalls rast eine mythische Gestalt auf mich zu, eine Inkarnation von Schicksal und Zerstörung: Major Shiva hat sich ins Gefecht gestürzt, und er sucht nur nach mir. Hinter mir her laufen die pumpenden Knie meines Verhängnisses ...
... Das Bild eines Elendsquartiers kommt mir in den Sinn: mein Sohn! Und nicht nur mein Sohn: ein silberner Spucknapf mit Einlegearbeit aus Lapislazuli! Irgendwo im Tumult des Gettos ist ein Kind allein gelassen worden ... irgendwo ein lange gehüteter Talisman im Stich gelassen worden. Die Freitagsmoschee sieht ungerührt zu, als ich ausweiche, mich ducke, zwischen den umkippenden Hütten umherrenne, meine Füße mich zu segelohrigem Sohn und Spucknapf lenken ... aber was für eine Chance hatte ich gegen jene Knie? Die Knie des Kriegshelden kommen näher näher näher, während ich fortrenne, die Gelenke meiner Nemesis donnern auf mich zu, und er springt, die Beine des Kriegshelden fliegen durch die Luft, schließen sich wie Kiefer um meinen Hals, Knie drücken meiner Kehle den Atem ab, ich stürze nieder, winde mich, doch die
Knie halten mich umklammert, und nun sagt eine Stimme – die Stimme des Verrats Treubruches Hasses! -, während Knie auf meiner Brust ruhen und mich in den dicken Staub des Slums pressen: «So, kleiner reicher Junge: Wir treffen uns also wieder. Salaam.» Ich spuckte, Shiva lächelte.
O glänzende Knöpfe auf der Uniform eines Verräters! Schimmernd flimmernd wie Silber ... warum tat er es? Warum wurde er, der einst anarchistische Unruhestifter durch die Slums von Bombay geführt hatte, zum Kriegsherrn der Tyrannei? Warum betrog ein Mitternachtskind die Kinder der Mitternacht und führte mich meinem Verhängnis zu? Aus Liebe zur Gewalt und dem rechtfertigenden Glitzern von Uniformknöpfen? Aus alter Antipathie mir gegenüber? Oder – das leuchtet mir am meisten ein – weil er dadurch von Strafen frei blieb, die uns anderen auferlegt wurden ... ja, das muss es sein. O Geburtsrecht verweigernder Kriegsheld! O durchs Linsengericht bestochener Rivale ... Doch halt, ich muss damit aufhören und die Geschichte so einfach wie möglich erzählen: Während Soldaten Magier jagten, verhafteten und aus ihrem Getto trieben, konzentrierte sich Major Shiva auf mich. Auch ich wurde mit roher Gewalt zu einem Lastwagen gezerrt; während Bulldozer in den Slum vorrückten, wurde eine Tür zugeschlagen ... in der Dunkelheit schrie ich auf «Aber mein Sohn! - Und Parvati, wo ist sie, meine Laylah? – Picture Singh! Rette mich, Pictureji!» – Aber nun waren die Bulldozer da, und niemand hörte meine Schreie.
Parvati-die-Hexe fiel, da sie mich geheiratet hatte, dem Fluch eines gewaltsamen Todes zum Opfer, der über allen meinen Leuten liegt ... Ich weiß nicht, ob Shiva auf die Suche nach ihr ging, nachdem er mich in einen dunklen geschlossenen Wagen gesperrt hatte, oder ob er sie den Bulldozern überließ ... denn nun waren die Zerstörungsmaschinen in ihrem Element, und die jämmerlichen kleinen Buden der Barackenstadt rutschten, sanken wie toll unter der Kraft der unwiderstehlichen Geschöpfe in sich zusammen, Hütten
zerbrachen wie Zweige, die kleinen Papierpakete der Puppenspieler und die Zauberkörbe der Illusionisten wurden zu einer formlosen Masse zerstampft; die Stadt wurde verschönert, und wenn es ein paar Todesfälle gab, wenn ein Mädchen mit untertassengroßen Augen und kummervoll schmollenden Lippen unter die vorrückenden Moloche geriet, nun, was hatte das schon zu bedeuten, ein Schandfleck wurde vom Antlitz der altehrwürdigen Hauptstadt entfernt ... und es geht das Gerücht, dass während der Todeskrämpfe des Magiergettos ein bärtiger Riese, bekränzt von Schlangen (aber das kann auch eine Übertreibung sein), durch den Trümmerhaufen lief – VOLLE WUCHT! —, wild vor den vorrückenden Bulldozern herlief, die Krücke eines für immer zerbrochenen Schirms in der Hand hielt und nach etwas suchte, suchte, als ob von der Suche sein Leben abhinge. Am Ende jenes Tages war der Slum, der sich im Schatten der Moschee gedrängt hatte, vom Erdboden verschwunden; doch nicht alle Magier waren gefangen, nicht alle waren zu dem stacheldrahtumzäunten Lager namens Khichripur, Risi-Pisi-Stadt, auf der
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