Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
anderen Seite des Flusses Jamuna weggekarrt worden. Nie fingen sie Picture Singh, und es heißt, dass am Tag, nachdem das Getto eingeebnet worden war, ein neuer Slum im Herzen der Stadt, direkt am Bahnhof von Neu-Delhi, gesichtet wurde. Bulldozer wurden dorthin geschickt, wo sich die Elendsunterkunft befinden sollte; man fand nichts. Danach wussten bald alle Einwohner der Stadt von der Existenz des umherziehenden Slums der entkommenen Illusionisten, doch die Abbruchkommandos fanden ihn nie. Es hieß, man habe ihn in Mehrauli gefunden, aber als Sterilisations- und Soldatentrupps dahin gingen, stellten sie fest, dass die Mauern des Qutb Minar nicht von den Elendshütten der Armut verunreinigt waren. Informanten sagten, er sei in den Gärten von Jantar Mantar, dem Mogul-Observatorium Jai Singhs, aufgetaucht, aber als die Zerstörungsmaschinen dorthin rasten, fanden sie nur Papageien und Sonnenuhren. Erst nach dem Ende des Notstands fand der umherziehende Slum eine feste Bleibe; aber das muss bis
später warten, denn nun ist es Zeit, zu guter Letzt und ohne die Kontrolle zu verlieren, über meine Gefangenschaft in der Herberge der Witwen in Benares zu sprechen.
Einst hatte Resham Bibi geklagt: «Ai-o-ai-o!» – und sie hatte Recht: Ich brachte Vernichtung in das Getto meiner Retter; Major Shiva, der zweifelsohne genau nach Anweisung der Witwe handelte, kam in die Kolonie, um meiner habhaft zu werden, während der Sohn der Witwe seine Programme zur Verschönerung der Stadt und zur Vasektomie organisierte, um ein Ablenkungsmanöver durchzuführen. Ja, natürlich war alles so geplant und (wenn ich das sagen darf) äußerst effizient geplant. Was während des Aufstands der Magier erreicht wurde: kein geringeres Bravourstück, als dass unbemerkt eine Person gefangen genommen wurde, und zwar die einzige Person auf Erden, die den Schlüssel zum Aufenthaltsort jedes einzelnen der Kinder der Mitternacht besaß – denn hatte ich mich nicht Nacht um Nacht auf jedes einzelne von ihnen eingestellt? Trug ich nicht für alle Zeit ihre Namen Adressen Gesichter im Kopf? Ich will diese Frage mit ja beantworten. Und ich wurde gefangen genommen.
Ja, natürlich war alles so geplant. Parvati-die-Hexe hatte mir alles über meinen Rivalen erzählt; ist es wahrscheinlich, dass sie mich ihm gegenüber nicht erwähnt hatte? Ich will auch diese Frage beantworten: Es ist überhaupt nicht wahrscheinlich. So wusste unser Kriegsheld, wo sich in der Hauptstadt die eine Person herumdrückte, nach der seine Herren in allererster Linie suchten (noch nicht einmal mein Onkel Mustapha wusste, wo ich hinging, nachdem ich ihn verlassen hatte, aber Shiva wusste es!) – und nachdem er einmal zum Verräter geworden war, bestochen, dessen bin ich mir sicher, durch alles Mögliche, von Versprechen auf Beförderung bis hin zur Garantie persönlicher Sicherheit, war es ein Leichtes für ihn, mich in die Hände seiner Herrin auszuliefern, der Madam, der Witwe mit dem verschiedenfarbigen Haar.
Shiva und Saleem, Sieger und Opfer; verstehen Sie unsere Rivalität,
und Sie werden das Zeitalter, in dem Sie leben, verstehen. (Auch die Umkehrung dieser Aussage gilt.)
Noch etwas außer meiner Freiheit verlor ich an jenem Tag: Bulldozer verschlangen einen silbernen Spucknapf. Des letzten Gegenstands beraubt, der mich mit meiner greifbareren, historisch nachprüfbaren Vergangenheit verband, wurde ich nach Benares gebracht, um mit den Folgen meines inneren, von der Mitternacht gewährten Lebens konfrontiert zu werden.
Ja, dort geschah es, im Palast der Witwen an den Ufern des Ganges in der ältesten bewohnten Stadt der Welt, der Stadt, die schon alt war, als Buddha jung war, Kasi Benares Varanasi, Stadt des göttlichen Lichts, Heimat des Prophetischen Buchs, des Horoskops der Horoskope, in dem jedes Leben, vergangenes gegenwärtiges zukünftiges, schon aufgezeichnet ist. Die Göttin Ganga strömte durch Schiwas Haar zur Erde ... nach Benares, dem Heiligtum für Schiwa-den-Gott, wurde ich von Shiva-dem-Helden gebracht, um meinem Verhängnis ins Auge zu sehen. In der Heimat der Horoskope kam die Stunde, die von Ramram Seth in einem Raum auf einem Dach vorhergesagt wurde: «Soldaten werden ihn verhören ... Tyrannen werden ihn schmoren!», hatte der Wahrsager vorgetragen; nun, einen ordentlichen Prozess gab es nicht – Shivas Knie um meinen Hals gelegt, und damit hatte es sich -, aber ich roch eines Wintertags den Duft von etwas, das in einer Kasserolle geschmort
Weitere Kostenlose Bücher