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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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mir zugestanden wurde, und teilte meine tägliche Schale Reis mit Kakerlaken und Ameisen. Und was die Kinder der Mitternacht betraf – diese Furcht erregende Verschwörung, die auf alle Fälle zerschlagen werden musste, diese Bande mörderischer Desperados, vor der eine astrologiebesessene Ministerpräsidentin vor Schrecken
zitterte —, die grotesken anormalen Monster der Unabhängigkeit, für die ein moderner Nationalstaat weder Zeit noch Mitgefühl haben konnte: Sie waren neunundzwanzig Jahre alt, höchstens ein, zwei Monate älter oder jünger, als sie zur Herberge der Witwen gebracht wurden. Zwischen April und Dezember wurden sie zusammengetrieben, und ihr Flüstern begann die Wände zu füllen. Die Wände meiner Zelle (papierdünn, mit abblätterndem Putz, kahl) begannen, in ein schlechtes und in ein gutes Ohr zu flüstern, und berichteten von dem, was meine schändlichen Geständnisse nach sich gezogen hatten. Ein gurkennasiger Gefangener, behängt mit Eisenstangen und -ringen, die verschiedene natürliche Verrichtungen unmöglich machten – Gehen, die Benutzung des Nachttopfs aus Blech, Hocken, Schlafen —, lag zusammengekauert gegen abblätternden Putz gepresst und flüsterte mit einer Wand.
    Das war das Ende; Saleem gab seinem Schmerz nach. Mein Leben lang und auch im größeren Teil dieser Erinnerungen habe ich versucht, mein Leid hinter Schloss und Riegel zu halten, um zu verhindern, dass es meine Sätze mit seiner salzigen sentimentalen Flüssigkeit beflecke; aber jetzt kann ich nicht mehr. Man nannte mir keine Gründe (bis die Hand der Witwe ...) für meine Einkerkerung: Aber wer von den dreißigtausend oder der viertel Million bekam gesagt, warum und wozu? Wer musste es gesagt bekommen? In den Wänden hörte ich die gedämpften Stimmen der Mitternachtskinder: Ich brauchte keine weiteren Erklärungen und flennte, das Gesicht gegen abblätternden Putz gepresst.
    Was Saleem zwischen April und Dezember 1976 den Wänden zuflüsterte:
    ... Liebe Kinder. Wie soll ich es sagen? Was gibt es zu sagen? Meine Schuld, meine Scham. Obwohl Entschuldigungen möglich sind: Wegen Shiva konnte man mir keinen Vorwurf machen. Und alle möglichen Leute werden eingesperrt, weshalb also nicht wir? Und Schuld ist eine komplizierte Sache, denn sind wir nicht alle, jeder von uns in gewisser Hinsicht verantwortlich – bekommen wir nicht
die Führer, die wir verdienen? Aber solche Entschuldigungen werden nicht geboten. Ich tat es, ich. Liebe Kinder: Und meine Parvati ist tot. Und meine Jamila verschwunden. Und jeder. Verschwinden scheint ein weiteres Merkmal zu sein, das sich in meiner Geschichte stets wiederholt: Nadir Khan verschwand aus einer Unterwelt und hinterließ eine Mitteilung; Aadam Aziz verschwand ebenfalls, bevor meine Großmutter aufstand, um die Gänse zu füttern; und wo ist Mary Pereira? Ich verschwand in einem Korb, aber Laylah oder Parvati ging futsch ohne Hilfe von Zaubersprüchen. Und nun sind wir hier, vom Angesicht der Erde verschwunden. Der Fluch des Verschwindens, liebe Kinder, ist offensichtlich in euch hineingesickert. Nein, die Frage der Schuld mit mehr Abstand zu betrachten weigere ich mich kategorisch; wir sind dem, was geschieht, zu nahe, der abwägende Blick ist unmöglich. Später wird man vielleicht analysieren, warum und wozu, wird man zugrunde liegende ökonomische Tendenzen und politische Entwicklungen anführen, aber im Augenblick sind wir der Leinwand noch zu nahe, das Bild zerfällt in Punkte, nur subjektive Beurteilungen sind möglich. Subjektiv also senke ich voller Scham den Kopf. Liebe Kinder: verzeiht. Nein, ich erwarte nicht von euch, dass ihr verzeiht.
    Politik, Kinder: bestenfalls ein schlimmes, schmutziges Geschäft. Wir hätten es meiden sollen, ich hätte nie vom Sinn träumen sollen. Ich komme zu dem Schluss, dass das Private, das unbedeutende individuelle Leben der Menschen der ganzen aufgeblähten makrokosmischen Aktivität vorzuziehen ist. Aber zu spät. Kann man nichts machen. Man muss die Dinge hinnehmen, wie sie kommen.
    Gute Frage, Kinder: Was muss hingenommen werden? Warum werden wir hier zusammengetrieben, eins nach dem anderen, weshalb hängen Stangen und Ringe von unseren Hälsen? Und manche sind auf noch seltsamere Weise in ihrer Bewegungsfreiheit eingeengt (wenn man einer flüsternden Wand glauben darf): Die mit der Gabe der Levitation ist mit den Knöcheln an Ringe gefesselt, die in den Fußboden eingelassen wurden, und ein Werwolf muss
einen Maulkorb

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