Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
ich, dass die
Ministerpräsidentin Indiens nirgendwo ohne ihren persönlichen Astrologen hinging. In diesem Fragment entdeckte ich mehr als Rübengeruch; auf geheimnisvolle Weise erkannte ich wieder einmal den Geruch persönlicher Gefahr. Was ich aus diesem warnenden Aroma ableiten muss: Wahrsager prophezeiten mich, hätten Wahrsager mich am Ende nicht auch ins Verderben stürzen können? Hätte eine Witwe, von den Sternen besessen, von Astrologen nicht vom geheimen Potential aller Kinder erfahren können, die zu jener längst vergangenen Mitternachtsstunde geboren waren? Und war das der Grund, weshalb ein Beamter, Fachmann für Ahnenforschung, aufgefordert wurde, eine Spur zu verfolgen ... und weshalb er mich am Morgen danach so seltsam ansah? Ja, sehen Sie, die Stücke beginnen zusammenzupassen! Padma, wird es nicht klar? Indira ist Indien, und Indien ist Indira ... aber hätte sie denn nicht den Brief ihres eigenen Vaters an ein Mitternachtskind lesen können, in dem ihr die eigene, zum Wahlspruch erhobene zentrale Rolle verwehrt wurde, in dem die Rolle, Spiegel der Nation zu sein, mir zugesprochen wurde? Siehst du? Siehst du? ... Und es gibt noch mehr, gibt einen noch klareren Beweis, denn hier ist ein weiterer Fetzen aus der Times of India, in dem Samachar, die Nachrichtenagentur, die der Witwe gehörte, ihren «Entschluss, die tief reichende und weit verbreitete Verschwörung, die immer noch größere Kreise zieht, zu bekämpfen», zitiert. Ich sage Ihnen: Sie meinte nicht den Janata Morcha! Nein, der Notstand hatte eine schwarze so gut wie eine weiße Seite, und hier ist das Geheimnis, das zu lange unter der Maske jener unterdrückten Tage verborgen gelegen hat: Das wahrste, verborgenste Motiv hinter der Ausrufung des Notstands war das Zerschlagen, das Zerschmettern, das unwiderrufliche Auseinanderbringen der Kinder der Mitternacht. (Deren Konferenz natürlich schon vor Jahren aufgelöst worden war; aber die bloße Möglichkeit, dass wir uns wiedervereinigten, genügte, damit der rote Knopf gedrückt wurde.)
Astrologen – dessen bin ich mir sicher – schlugen Alarm; in einer
schwarzen Mappe mit dem Etikett MKK wurden Namen aus noch vorhandenen Aufzeichnungen zusammengetragen; aber es steckte mehr dahinter. Es gab Treubrüche und Geständnisse, es gab Knie und eine Nase – eine Nase und auch Knie.
Fetzen, Splitter, Bruchstücke: Mir scheint, dass ich, unmittelbar bevor ich mit dem Geruch von Gefahr in der Nase aufwachte, geträumt hatte, ich schliefe. In diesem erschreckendsten aller Träume erwachte ich und fand einen Fremden in meiner Hütte: einen poetisch aussehenden Burschen mit glatten Haaren, die sich um seine Ohren ringelten (die aber oben sehr dünn waren). Ja: In meinem letzten Schlaf vor dem, was noch beschrieben werden muss, wurde ich vom Schatten Nadir Khans besucht, der verblüfft auf einen silbernen Spucknapf mit Einlegearbeit aus Lapislazuli starrte und unsinnigerweise fragte: «Hast du den gestohlen? – Oder bist du etwa – ist es die Möglichkeit – der kleine Junge meiner Mumtaz?» Und als ich bestätigte: «Ja, niemand anders, ich bin es», stieß die Traumerscheinung Nadir-Qasims eine Warnung hervor: «Versteck dich. Du hast nicht mehr viel Zeit. Versteck dich, solange es noch geht.»
Nadir, der sich unter meines Großvaters Teppich versteckt hatte, kam, um mir Ähnliches zu empfehlen, doch zu spät, zu spät, denn nun wurde ich auch in Wirklichkeit wach und roch den Geruch von Gefahr, als schmetterten Trompeten in meiner Nase ... ängstlich, ohne zu wissen, warum, erhob ich mich; und bilde ich es mir ein, oder starrten Aadam Sinais blaue Augen ernst in die meinen? Waren auch die Augen meines Sohnes schreckerfüllt? Hatten Segelohren gehört, was eine Nase herausgeschnüffelt hatte? Verständigten Vater und Sohn sich wortlos in jenem Augenblick, bevor alles begann? Ich muss die Fragezeichen unbeantwortet stehen lassen, aber sicher ist, dass Parvati, meine Laylah Sinai, ebenfalls erwachte
und fragte: «Was ist los, Herr? Was ist dir für eine Laus über die Leber gekrochen?» Und ich, ohne richtig den Grund zu kennen: «Versteck dich, bleib hier drinnen und geh nicht raus.» Dann ging ich nach draußen.
Es muss Morgen gewesen sein, obwohl der Dämmer der endlosen Mitternacht wie ein Nebel über dem Getto hing ... durch das trübe Licht des Notstands sah ich Kinder Himmel und Hölle spielen und Picture Singh, seinen Regenschirm unter die linke Achselhöhle geklemmt,
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