Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
des Lesens und Schreibens kundiger junger Mann zumindest Bankangestellter oder Lehrer an einer Abendschule für Analphabeten hätte werden können -, weil ich mein Leben lang, bewusst oder unbewusst, Väter ausfindig machte. Ahmed Sinai, Hanif Aziz, Scharfstecher Sahib, General Zulfikar: Alle sind in Abwesenheit
William Methwolds dienstverpflichtet worden; Picture Singh war der Letzte dieser edlen Reihe. Und vielleicht überschätzte ich Picture Singh in meiner zweifachen Gier, Väter zu finden und das Vaterland zu retten; es besteht die erschreckende Möglichkeit, dass ich ihn zu einem Phantasieprodukt verzerrte (und ihn auf diesen Seiten erneut verzerrt dargestellt habe) ... ganz gewiss stimmt es, dass er, wann immer ich mich erkundigte: «Wann wirst du unser Führer werden, Pictureji – wann kommt der große Tag?», sich verlegen wand und antwortete: «Schlag dir das aus dem Kopf, Hauptmann. Ich bin ein armer Mann aus Rajasthan und auch der Bezauberndste Mann der Welt, mach mich nicht zu etwas anderem. »Aber ich drängte ihn: «Es gibt ein Vorbild – es gab Mian Abdullah, den Kolibri ...», worauf Picture sprach: «Hauptmann, du hast wirklich verrückte Ideen.»
In den ersten Monaten des Notstands verharrte Picture Singh in einem düsteren Schweigen, das (wieder einmal!) an die große Lautlosigkeit Ehrwürdiger Mutter erinnerte (die auch in meinen Sohn getröpfelt war ... ), und unterließ es, sein Publikum auf den Verkehrsstraßen und in den Seitengassen der alten und der neuen Stadt zu belehren, worauf er in der Vergangenheit bestanden hatte; doch obwohl er sagte: «Dies ist eine Zeit zum Schweigen, Hauptmann», blieb ich überzeugt, dass es eines Tages, in einer heilbringenden Morgendämmerung am Ende der Mitternacht, irgendwie Picture Singh sein würde, der uns an der Spitze eines großen Jooloos, einer Prozession der Enteigneten, vielleicht Flöte spielend und von todbringenden Schlangen umkränzt, zum Licht führen würde ... aber vielleicht war er doch nur ein Schlangenbeschwörer; ich leugne die Möglichkeit nicht. Ich sage nur, dass mir mein letzter Vater, groß hager bärtig, das Haar zu einem Nackenknoten nach hinten gezogen, als der leibhaftige Avatara von Mian Abdullah erschien; aber vielleicht war es alles eine Illusion, geboren aus meinem Versuch, ihn durch schiere Willensanstrengung mit den Fäden meiner Geschichte zu verknüpfen. Es hat Illusionen in meinem Leben
gegeben, glauben Sie nicht, ich sei mir dessen nicht bewusst. Wir kommen jedoch zu einer Zeit jenseits aller Illusion; da mir keine Wahl bleibt, muss ich endlich schwarz auf weiß den Höhepunkt beschreiben, den ich den ganzen Abend zu umgehen versucht habe.
Erinnerungssplitter: so sollte ein Höhepunkt nicht beschrieben werden. Ein Höhepunkt sollte plötzlich zu seinem himalajahohen Gipfel ansteigen, ich aber habe nur noch Fetzen in der Hand und muss mich ruckweise auf meine Krise zubewegen wie eine Marionette an einem zerrissenen Faden. So hatte ich es nicht geplant, aber vielleicht ist die Geschichte, die man zu Ende bringt, niemals die, die man begonnen hat. (In einem blauen Zimmer hatte Ahmed Sinai einst Schlüsse für Märchen erfunden, deren ursprünglichen Schluss er längst vergessen hatte; das Messingäffchen und ich hörten über die Jahre hinweg alle möglichen Versionen der Reise Sindbads und der Abenteuer Hatim Tais ... wenn ich noch einmal begänne, würde auch ich an einem anderen Ort enden?) Nun also, ich muss mich mit Splittern und Fetzen begnügen: Wie ich vor Jahrhunderten schrieb, besteht der Trick darin, die Lücken, geleitet von den spärlichen Hinweisen, die man bekommt, zu füllen. Das meiste von dem, was in unserem Leben eine Rolle spielt, findet in unserer Abwesenheit statt; ich muss mich von der Erinnerung an eine einmal erblickte Akte mit verräterischen Initialen und den anderen verbleibenden Scherben der Vergangenheit leiten lassen, die in den geplünderten Gewölben meiner Erinnerung liegen wie zerbrochene Flaschen am Strand ... Wie Erinnerungsfetzen flatterten im stummen mitternächtlichen Wind auch Zeitungen durch die Magierkolonie.
Vom Wind dahergetragene Zeitungen besuchten meine Hütte, um mich darüber zu informieren, dass mein Onkel Mustapha Aziz unbekannten Aktivitäten zum Opfer gefallen sei; ich unterließ es, eine Träne zu vergießen. Aber es gab noch andere Informationen, und aus diesen muss ich die Wirklichkeit konstruieren.
Auf einem Blatt Papier (das nach Rüben roch) las
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