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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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wurde ...
    Folgen Sie dem Fluss, vorbei am Scindia-Ghat, wo junge Sportler in weißen Lendentüchern auf einem Arm Liegestütze machen, vorbei am Manikarnika-Ghat, der Stätte der Totenfeiern, wo man von den Hütern der Flamme heiliges Feuer erwerben kann, vorbei an dahintreibenden Kadavern von Hunden und Kühen – Unglücklichen, für die kein Feuer gekauft wurde -, vorbei an Brahmanen unter Strohschirmen, die, in Safrangelb gekleidet, am Dasashwamedh-Gath ihren Segen austeilen ... und nun wird es hörbar, ein seltsamer
Klang, wie das Bellen ferner Hunde ... folgen Sie dem Klang, folgen Sie ihm, folgen Sie ihm, und er nimmt Gestalt an, Sie begreifen, dass es ein mächtiges endloses Klagen ist, das aus den verhangenen Fenstern eines Palastes am Fluss dringt: der Herberge der Witwen. Einst war sie die Residenz eines Maharadschas; aber das heutige Indien ist ein modernes Land, und solche Anwesen wurden vom Staat enteignet. Der Palast ist nun ein Heim für verwitwete Frauen; sie, die erkennen, dass ihr wahres Leben mit dem Tod des Ehemannes endete, denen die Erlösung in der Sati aber nicht mehr vergönnt ist, kommen in die heilige Stadt, um ihre nutzlosen Tage mit tief empfundenem Wehklagen zu verbringen. Im Palast der Witwen lebt eine Horde Frauen, deren Brüste durch die Kraft ihrer Fäuste auf immer grün und blau geschlagen sind, deren Haar auf immer zerrauft ist und deren Stimmen brüchig sind, weil sie ihrer Trauer durch ständiges Wehklagen Ausdruck geben. Es ist ein weitläufiges Gebäude, in den oberen Stockwerken ein Labyrinth winziger Räume, unten die große Klagehalle; und ja, dort geschah es, dort zog Die Witwe mich ins geheimste Herz ihres schrecklichen Reiches, dort wurde ich in ein winziges Zimmer eingeschlossen, und die verwitweten Frauen brachten mir Gefängnisessen. Doch ich hatte auch andere Besucher: Der Kriegsheld brachte zwei seiner Kollegen mit, die sich mit mir unterhalten sollten. Mit anderen Worten: Ich wurde aufgefordert zu reden. Von einem schlecht zusammenpassenden Duo, der eine fett, der andere dünn, das ich Abbott-und-Costello nannte, weil es den beiden nie gelang, mich zum Lachen zu bringen.
    Hier verzeichne ich einen gnädigen Gedächtnisausfall. Nichts kann mich dazu bringen, dass ich mich der Methoden entsinne, mit denen dieses humorlose uniformierte Paar die Unterhaltung bestritt; kein Chutney oder Eingelegtes ist in der Lage, die Türen aufzuschließen, hinter denen ich jene Tage weggeschlossen habe! Nein, ich hab’s vergessen, kann nicht, will nicht sagen, wie sie mich dazu brachten auszupacken – aber dass die Sache zutiefst beschämend war, das kann ich nicht leugnen, nämlich dass ich trotz des humorlosen
und in der Regel wenig mitfühlenden Verhaltens meines zweiköpfigen Inquisitors ganz gewiss redete. Und mehr als nur redete: Unter dem Einfluss ihrer unnennbaren – vergessenen – Druckmittel wurde ich aufs Äußerste redselig. Was damals (im Unterschied zu heute) über meine Lippen sprudelte: Namen Adressen Personenbeschreibungen. Ja, ich sagte ihnen alles, ich nannte alle fünfhundertachtundsiebzig (denn Parvati, wie sie mich liebenswürdigerweise informierten, war tot und Shiva zum Feind übergegangen, und der fünfhunderteinundachtzigste besorgte das Reden ...) – durch den Verrat eines anderen zum Treubruch gezwungen, betrog ich die Kinder der Mitternacht. Ich, der Begründer der Konferenz, saß ihrem Ende vor, während Abbott-und-Costello ohne zu lächeln von Zeit zu Zeit einwarfen: «Aha! Sehr gut! Von der haben wir gar nicht gewusst!», oder: «Sie sind sehr kooperativ; dieser Bursche war uns bis jetzt noch nicht untergekommen!»
    Solche Dinge geschehen. Statistiken mögen meine Verhaftung in einen Zusammenhang stellen; auch wenn beträchtliche Meinungsverschiedenheiten über die Zahl der «politischen» Gefangenen während des Notstands herrschen, verloren zwischen dreißigtausend und einer viertel Million Menschen ganz bestimmt ihre Freiheit. Die Witwe sagte: «Es ist nur ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung Indiens.» Alle möglichen Dinge geschehen während eines Notstands: Züge verkehren pünktlich, Schwarzgeldhamsterer werden so eingeschüchtert, dass sie Steuern bezahlen, selbst das Wetter wird zur Räson gebracht, und Rekordernten werden eingefahren; es gibt, ich wiederhole, eine weiße ebenso wie eine schwarze Seite. Aber auf der schwarzen Seite saß ich, gefesselt in einem winzigen Raum auf einer Strohmatratze, dem einzigen Mobiliar, das

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