Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Seite hinabhängen, fuhr im Freilauf einen leichten Abhang hinunter und setzte seine Rikscha so ein wie Gai-Wallah sein Pferd, wenn er sich vor seinen Feinden verbergen wollte. Schließlich kam er wieder hoch, schlug den Lenker ein, und zu seinem Entzücken lief die Rikscha brav durchs Tor und die Gasse neben dem Getreidefeld hinab. Gai-Wallah hatte diesen Trick benutzt, um sich an eine Bande Viehhirten heranzuschleichen, die spielend und trinkend im Gebüsch saßen. Raschid bremste, warf sich ins Kornfeld und rannte – VOLLE WUCHT! – auf die nichts ahnenden Viehhirten zu, das Gewehr gespannt und schussbereit. Als er sich ihrem Lagerfeuer näherte, ließ er seinen «Hassschrei» los, um sie zu erschrecken. YAAAAAAA! Es lag auf der Hand, dass er so nahe beim Haus des Doktor Sahib nicht wirklich schrie, aber er sperrte beim Laufen
den Mund auf und schrie schweigend. BLAMM! BLAMM! Nadir Khan hatte schlecht einschlafen können und schlug nun die Augen auf. Er sah – EEEYAAAH! – eine wilde sehnige Gestalt, die wie ein Schnellzug auf ihn zugerannt kam und dabei aus Leibeskräften schrie – aber vielleicht war er taub geworden, denn es war kein Ton zu hören! Er sprang auf, und gerade kam ein Schrei über seine allzu vollen Lippen, da sah Raschid ihn und fand ebenfalls seine Stimme wieder. In erschrockenem Unisono aufheulend, gaben sie beide Fersengeld. Dann blieben sie stehen, weil jeder die Flucht des anderen bemerkt hatte, und beäugten sich gegenseitig durch das ausdörrende Korn. Raschid erkannte Nadir Khan, sah seine zerrissenen Kleider und war tief beunruhigt.
«Ich bin ein Freund», sagte Nadir dümmlich. «Ich muss Doktor Aziz sprechen.»
«Aber der Doktor schläft und ist nicht im Getreidefeld.» Reiß dich zusammen, sagte Raschid zu sich, hör auf, Unsinn zu reden! Das ist Mian Abdullahs Freund! ... Aber Nadir schien nichts bemerkt zu haben; in seinem Gesicht arbeitete es heftig, als er versuchte, ein paar Worte herauszubringen, die ihm wie Hühnerfleischfasern zwischen den Zähnen hängen geblieben waren ... «Mein Leben» – endlich gelang es ihm –«ist in Gefahr.»
Und nun kam ihm Raschid, immer noch vom Geist des Gai-Wallah erfüllt, zu Hilfe. Er führte Nadir zu einer Seitentür des Hauses. Sie war verriegelt und verschlossen, aber Raschid zog und hielt das Schloss in der Hand. «Made in India», flüsterte er, als erkläre das alles. Und als Nadir eintrat, zischte Raschid: «Zählen Sie ganz auf mich, Sahib. Mama ist die Losung! Ich schwöre beim grauen Haar meiner Mutter.» Er befestigte das Schloss wieder draußen. Tatsächlich die rechte Hand des Kolibris gerettet zu haben! ... Aber vor was? Vor wem? ... Nun, das wirkliche Leben war manchmal besser als Kino.
«Ist er das?», fragt Padma einigermaßen bestürzt. «Dieses fette weiche feige Dickerchen? Wird er dein Vater?»
Unter dem Teppich
Das war das Ende der Optimismusepidemie. Am Morgen betrat eine Reinmachefrau die Büros des Zusammenschlusses Freier Islam und fand den zum Schweigen gebrachten Kolibri auf dem Fußboden, umgeben von Pfotenabdrücken und den Fetzen seiner Mörder. Sie schrie gellend; aber später, als die Sachverständigen da gewesen und wieder weg waren, befahl man ihr, das Zimmer zu säubern. Nachdem sie unzählige Hundehaare entfernt, zahllose Flöhe zerquetscht und die Überreste eines zerbrochenen Glasauges aus dem Teppich gezogen hatte, begehrte sie beim Hausverwalter der Universität auf, dass sie, wenn so etwas öfter geschehe, eine kleine Gehaltserhöhung verdiene. Sie war vermutlich das letzte Opfer des Optimismusbazillus, und in ihrem Fall dauerte die Krankheit nicht lange, denn der Hausverwalter war ein strenger Mann und feuerte sie.
Die Mörder wurden nie identifiziert und auch ihre Auftraggeber nicht namentlich bekannt. Mein Großvater wurde von Major Zulfikar, dem Adjutanten von Brigadegeneral Dodson, zur Universität gerufen, um den Totenschein für seinen Freund auszustellen. Major Zulfikar versprach, Doktor Aziz zu besuchen, um noch ein paar zu erledigende Kleinigkeiten abzuwickeln. Mein Großvater schnäuzte sich und ging. Auf dem Marktplatz fielen die Zelte zusammen wie zerstochene Hoffnungen; nie wieder würde der Zusammenschluss tagen. Die Rani von Cooch Naheen wurde bettlägerig. Nachdem sie ihre Krankheiten ein Leben lang leicht genommen hatte, ließ sie sich jetzt von ihnen vereinnahmen und lag jahrelang still, während sie zusah, wie sie die Farbe ihrer Laken annahm. Währenddessen
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