Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Menschen in diesem Land? Sind wir Tiere? Und wenn ich gehen muss, wann werden die Messer mich holen? ... Und Bilder von Fächern aus Pfauenfedern und vom durch Glas gesehenen Neumond, der sich in eine zustechende, rot befleckte Klinge verwandelt, gehen ihm durch den Kopf... Oben sagt Ehrwürdige Mutter: «Das Haus ist voller unverheirateter junger Mädchen, wieheißtesnoch. Erweist du so deinen Töchtern Respekt?» Und nun das Aroma eines Wutanfalls; der große zerstörerische Zorn Aadam Aziz’ ist entfesselt, und anstatt darauf hinzuweisen, dass Nadir Khan im Untergrund unter den Teppich gefegt sein wird, wo er kaum in der Lage sein wird, Töchter zu entjungfern; anstatt geziemend Zeugnis abzulegen für des verblosen Barden Anstandsgefühl, das so weit entwickelt ist, dass er noch nicht einmal von unsittlichen Annäherungsversuchen träumen könnte, ohne im Schlaf zu erröten; anstatt diese Zugangswege der Vernunft zu nutzen, brüllt mein Großvater: «Schweig still, Frau! Der Mann braucht unseren Schutz, er bleibt!» Daraufhin lässt sich ein unversöhnliches Parfüm, eine unumstößliche Wolke der Entschlossenheit, auf meiner Großmutter nieder, die sagt: «Sehr wohl. Du verlangst von mir, wieheißtesnoch, dass ich schweige. Also wird von jetzt an, wieheißtesnoch, kein Wort über meine Lippen kommen.» Und Aziz stöhnt: «Oh, verdammt, Frau, erspar uns deine verrückten Schwüre!»
Aber die Lippen der Ehrwürdigen Mutter waren versiegelt, und Schweigen senkte sich herab. Der Geruch von Schweigen füllt meine Nasenlöcher wie der eines verfaulenden Gänseeis; stärker als alles andere, nimmt er Besitz von der Erde ... Während Nadir Khan sich in seiner halbdunklen Unterwelt versteckte, versteckte auch seine Gastgeberin sich hinter einer betäubenden Mauer aus Geräuschlosigkeit. Zuerst sondierte mein Großvater die Mauer auf der Suche nach Lücken, er fand keine. Schließlich gab er es auf und wartete
auf Sätze von ihr, die flüchtige Einblicke in ihr Ich darboten, so wie er einst starkes Verlangen nach den Fragmenten ihres Körpers gehabt hatte, die er durch ein Laken mit einem Loch gesehen hatte. Und das Schweigen füllte das Haus von Wand zu Wand, vom Boden bis zur Decke, sodass die Fliegen ihr Surren aufzugeben schienen und die Moskitos sich des Summens vor dem Biss enthielten. Stille brachte das Zischen der Gänse im Hof zum Schweigen. Die Kinder sprachen zuerst flüsternd und verstummten dann: während im Getreidefeld Raschid der Rikschajunge seinen stummen «Hassschrei»herausschrie und seinen eigenen Schweigeschwur einhielt, den er beim Haar seiner Mutter geschworen hatte.
In diesen Sumpf der Lautlosigkeit trat eines Abends ein stämmiger kleiner Mann, dessen Kopf so flach war wie die Kappe darauf, dessen Beine so gebogen waren wie Schilfrohr im Wind, dessen Nase beinah sein nach oben strebendes Kinn berührte und dessen Stimme infolgedessen dünn und scharf war – sie musste so sein, um sich durch die schmale Lücke zwischen seinem Atmungsorgan und seinem Kiefer zu zwängen ... ein Mann, dessen Kurzsichtigkeit ihn zwang, im Leben alles schön der Reihe nach zu tun, was ihm den Ruf verschaffte, gründlich und langweilig zu sein, und ihn seinen Vorgesetzten lieb und teuer machte, da es sie in die Lage versetzte, sich gut bedient zu wissen, ohne sich bedroht zu fühlen; ein Mann, dessen gestärkte, gebügelte Uniform Schlämmkreide und Korrektheit ausdünstete und dem, obwohl er wie eine Figur aus dem Puppentheater aussah, ein unverkennbarer Geruch von Erfolg anhing: Major Zulfikar, ein Mann mit Zukunft, kam wie versprochen vorbei, um ein paar noch zu erledigende Kleinigkeiten abzuwickeln. Abdullahs Ermordung und Nadir Khans verdächtiges Verschwinden beschäftigten ihn sehr, und da er wusste, dass Aadam Aziz vom Optimismusbazillus angesteckt war, missverstand er die Stille im Haus als Schweigen der Trauer und blieb nicht lange. (Im Keller kauerte Nadir zusammen mit Kakerlaken.) Major Zulfikar saß ruhig mit den fünf Kindern im Wohnzimmer, Hut und Stock
neben sich auf der Musiktruhe von Telefunken, während die lebensgroßen Bilder der jungen Aziz ihn von der Wand herab anstarrten, und verliebte sich. Er war kurzsichtig, aber er war nicht blind, und in dem unglaublich erwachsenen Blick der kleinen Emerald, der hellsten der «drei hellen Lichter», sah er, dass sie seine Zukunft verstanden und ihm deswegen sein Aussehen verziehen hatte, und bevor er sich verabschiedete, hatte er beschlossen, sie
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