Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
nach einem schicklichen Zeitraum zu heiraten. («Sie?», rät Padma. «Dieses Gör ist deine Mutter?» Aber es gibt noch andere zukünftige Mütter, andere kommende Väter, die durch das Schweigen heran- und wieder weggetragen werden.)
In dieser morastigen Zeit ohne Worte entwickelte sich auch das Gefühlsleben der ernsthaften Alia, der Ältesten, und Ehrwürdige Mutter, in Vorratskammer und Küche eingeschlossen, hinter ihren Lippen versiegelt, war – wegen ihres Schwurs – nicht imstande, ihr Misstrauen gegenüber dem jungen Kunstlederhändler, der ihre Tochter besuchen kam, auszudrücken. (Aadam Aziz hatte immer darauf bestanden, dass seine Töchter männliche Freunde haben durften.) Ahmed Sinai –«aha!», schreit Padma in triumphierender Erkenntnis – hatte Alia an der Universität kennen gelernt und schien intelligent genug für das belesene, gescheite Mädchen, in dessen Gesicht die Nase meines Großvaters ein Aussehen von übergewichtiger Weisheit bekommen hatte. Aber Naseem Aziz hatte ein ungutes Gefühl bei ihm, weil er mit zwanzig geschieden worden war. («Jeder kann einmal einen Fehler machen», hatte Aadam ihr gesagt und damit beinah einen Streit vom Zaun gebrochen, weil sie einen Augenblick lang meinte, in seinem Ton habe etwas übertrieben Persönliches gelegen. Aber dann hatte Aadam hinzugefügt: «Lass nur einmal ein oder zwei Jahre über seine Scheidung vergehen, dann veranstalten wir in diesem Haus die erste Hochzeit, mit einem großen Zelt im Garten und Sängern und Süßigkeiten und allem.» Und diese Vorstellung gefiel Naseem trotz alledem.) Wenn Ahmed Sinai und Alia nun durch die eingemauerten Gärten des
Schweigens spazierten, verständigten sie sich ohne Sprache; aber obwohl jeder erwartete, dass er sich erklärte, schien das Schweigen auch zu ihm durchgedrungen zu sein, und die Frage blieb ungefragt. Zu jener Zeit nahm Alias Gesicht eine Schwere an, einen pessimistischen Zug um den Unterkiefer, den sie nie mehr ganz verlieren sollte. («Na, na», schilt Padma mich, «das ist doch keine Art, dein geschätztes Mütterchen zu beschreiben.»)
Noch etwas: Alia hatte die Neigung ihrer Mutter, Fett anzusetzen, geerbt. Mit den Jahren sollte sie sich aufblähen wie ein Ballon.
Und Mumtaz, die schwarz wie die Nacht aus dem Leib ihrer Mutter gekommen war? Mumtaz war nie brillant und auch nicht so schön wie Emerald, aber sie war gut und pflichtbewusst und einsam. Sie verbrachte mehr Zeit mit ihrem Vater als ihre Schwestern und wappnete ihn gegen die schlechte Laune, die sich mit der Zeit durch das ständige Jucken in seiner Nase noch verschlimmerte, und sie nahm die Aufgabe, für die Bedürfnisse Nadir Khans zu sorgen, auf sich, stieg täglich mit Essen und Besen in die Unterwelt und leerte sogar seinen persönlichen Donnerbalken, sodass noch nicht einmal ein Latrinenreiniger seine Anwesenheit erraten konnte. Wenn sie herabstieg, senkte er die Augen, und kein Wort wurde in diesem stummen Haus zwischen ihnen getauscht.
Was sagten die Spucknapf-Zieler noch mal über Naseem Aziz? «Sie belauschte die Träume ihrer Töchter, bloß um zu wissen, was sie im Schilde führten.» Ja, eine andere Erklärung gibt es nicht, seltsamere Dinge sind in diesem unserem Land schon bekannt geworden; nehmen Sie nur einmal eine Zeitung, und besehen Sie die tägliche Auslese von Wundern in diesem oder jenem Dorf – Ehrwürdige Mutter begann die Träume ihrer Töchter zu träumen. (Padma nimmt dies ohne mit der Wimper zu zucken hin, aber was andere so mühelos wie ein Laddoo herunterschlucken, kann Padma genauso leicht zurückweisen. Jedes Publikum hat seinen eigenen idiosynkratischen Glauben.) Also nun: Des Nachts in ihrem Bett schlafend, suchte Ehrwürdige Mutter Emeralds Träume heim und
fand in ihnen einen fremden Traum – Major Zulfikars Privatphantasie, ein großes modernes Haus mit einem Bad neben dem Bett zu besitzen. Das war der Gipfel seines Ehrgeizes, und auf diese Weise entdeckte Ehrwürdige Mutter nicht nur, dass ihre Tochter ihren Zulfi heimlich an Orten getroffen hatte, an denen es möglich war zu sprechen, sondern auch, dass Emeralds Ehrgeiz größer war als der ihres Liebsten. Und (warum nicht?) in Aadam Aziz’ Träumen sah sie ihren Ehemann mit einem faustgroßen Loch im Bauch traurig einen Berg in Kaschmir besteigen, und sie erriet, dass seine Liebe zu ihr nachließ, und sah auch seinen Tod voraus, sodass sie Jahre später, als sie davon erfuhr, nur sagte: «Ach, letzten Endes wusste ich
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