Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
bombastischen Ereignisse der Nacht der sichelförmigen Messer erinnerten Nadir Khan an seinen Zimmergenossen, denn das Leben hatte sich boshafterweise wieder einmal geweigert, lebensgroß zu bleiben. Es hatte sich zum Melodramatischen gewendet: Und das war ihm peinlich.
Wie konnte Nadir Khan quer durch die nächtliche Stadt laufen, ohne bemerkt zu werden? Ich schreibe dies der Tatsache zu, dass er ein schlechter Dichter war und als solcher der geborene Überlebende. Während er lief, war er merkwürdig gehemmt; sein Körper schien sich dafür zu entschuldigen, dass er sich benahm wie in einem billigen Thriller von der Art, wie sie Straßenhändler an Bahnhöfen verkaufen oder zusammen mit Flaschen einer grünen Medizin verschenken, die Erkältungen, Typhus, Impotenz, Heimweh und Armut heilen kann ... Die Nacht in der Cornwallis Road war warm. Neben dem verlassenen Rikschaplatz stand eine leere Kohlenpfanne. Das Paangeschäft war geschlossen, und die alten Männer schliefen auf dem Dach und träumten vom morgigen Spiel. Eine unter Schlaflosigkeit leidende Kuh, die träge an einer Rot-und-Weiß-Zigarettenschachtel kaute, wanderte um einen zusammengerollten Schläfer herum. Das bedeutete, dass er am nächsten
Morgen aufwachen würde, weil eine Kuh einen schlafenden Menschen ignoriert, es sei denn, er steht kurz vorm Tod. Dann beschnüffelt sie ihn bedächtig. Heilige Kühe fressen alles.
Das große alte Steinhaus meines Großvaters, vom Erlös des Edelsteingeschäfts und der Mitgift des blinden Ghani gekauft, lag im Dunkeln, in würdiger Entfernung von der Straße. Hinter dem Haus war ein ummauerter Garten, und am Gartentor stand das niedrige Häuschen, das billig an die Familie des alten Hamdard und seines Sohnes Raschid des Rikschajungen vermietet war. Vor dem Häuschen war der Brunnen mit seinem von einer Kuh betriebenen Wasserrad, von dem aus die Bewässerungskanäle zu dem kleinen Getreidefeld hinunterliefen, das das Haus die ganze Strecke bis hinunter zum Tor in der Umgrenzungsmauer entlang der Cornwallis Road säumte. Zwischen Haus und Feld verlief eine Gasse für Fußgänger und Rikschas. In Agra hatten kurz zuvor die Fahrradrikschas die Gefährte ersetzt, die von einem Mann zwischen den Holzdeichseln gezogen wurden. Für die von Pferden gezogenen Tongas gab es noch zu tun, aber auch sie wurden immer weniger ... Nadir Khan duckte sich unter dem Tor weg, hockte sich einen Augenblick mit dem Rücken gegen die Umgrenzungsmauer und wurde rot, als er Wasser ließ. Durch die Gewöhnlichkeit seiner Entscheidung anscheinend aus dem Gleichgewicht gebracht, floh er dann ins Kornfeld und tauchte dort unter. Durch die von der Sonne ausgetrockneten Halme teilweise verdeckt, legte er sich in der Haltung eines Embryos nieder.
Raschid der Rikschajunge war siebzehn und auf dem Heimweg vom Kino. An jenem Morgen hatte er zwei Männer gesehen, die einen Karren vor sich herschoben, auf dem mit der Rückseite zueinander zwei riesige handgemalte Plakate befestigt waren, die für den neuen Film Gai-Wallah mit Raschids Lieblingsschauspieler Dev warben. FRISCH VON FÜNFZIG STÜRMISCHEN WOCHEN IN DELHI! DIREKT VON DREIUNDSECHZIG SCHARFGESCHOSSENEN WOCHEN IN BOMBAY! schrien
die Plakate. ZWEITES HELLAUF BEGEISTERNDES JAHR! Der Film war ein Eastern. Sein Held, Dev, der nicht schlank war, durchritt das Weidegebiet allein. Es sah sehr nach der indischen Gangesebene aus. Gai-Wallah heißt Kuhjunge, und Dev spielte eine Art Ein-Mann-Sicherheitstruppe für den Schutz von Kühen. GANZ ALLEIN! und MIT EINER DOPPELFLINTE! spürte er die vielen Viehherden auf, die durch die Weidegründe zum Schlachthaus getrieben wurden, schlug die Viehhirten in die Flucht und befreite die heiligen Tiere. (Der Film war für ein Hindu-Publikum hergestellt; in Delhi hatte er Krawalle verursacht. Angehörige der Moslemliga hatten an den Kinos vorbei Kühe zum Schlachten getrieben und waren angepöbelt worden.) Die Lieder und die Tänze waren gut, und es gab ein wunderschönes Natsch-Mädchen, das anmutiger ausgesehen hätte, wenn es nicht mit einem breitkrempigen Cowboyhut hätte tanzen müssen. Raschid saß auf einer Bank vorne im Parkett und schloss sich dem Pfeifen und den Zurufen an. Er aß zwei Samosas und gab zu viel Geld aus. Seine Mutter würde gekränkt sein, aber er hatte sich jedenfalls amüsiert. Als er auf dem Heimweg in die Pedale seiner Rikscha trat, probierte er einige der Reitkunststücke aus, die er im Film gesehen hatte, ließ sich tief an einer
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