Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
waren die Tage in dem alten Haus in der Cornwallis Road voller
potentieller Mütter und möglicher Väter. Du siehst, Padma: Du wirst es gleich herausfinden.
Indem ich meine Nase benutze (denn sie hat, obgleich sie die Fähigkeiten verlor, die es ihr vor so kurzer Zeit noch ermöglichten, Geschichte zu machen, zum Ausgleich andere Talente erlangt), sie nach innen wende, habe ich die Atmosphäre im Haus meines Großvaters in jenen Tagen nach dem Tod von Indiens summender Hoffnung ausgeschnüffelt, und durch die Jahre weht eine merkwürdige, mit Unbehagen angefüllte Duftmischung zu mir herüber, der Hauch verborgener Dinge, gemischt mit den Gerüchen einer knospenden Romanze und dem scharfen Gestank der Neugierde und Kraft meiner Großmutter ... während die Moslemliga sich, heimlich natürlich, über den Sturz ihres Widersachers freute, konnte man meinen Großvater jeden Morgen mit Tränen in den Augen auf dem, was er seinen Donnerbalken nannte, finden (meine Nase jedenfalls findet ihn). Aber seine Tränen sind keine Tränen des Kummers, Aadam Aziz hat schlicht den Preis dafür, ein Inder geworden zu sein, bezahlt und leidet schrecklich unter Verstopfung. Kläglich beäugt er die Klistierspritze, die an der Toilettenwand hängt.
Warum bin ich in den stillen Ort meines Großvaters eingedrungen? Warum, wenn ich hätte beschreiben können, wie Aadam sich nach Mian Abdullahs Tod in seiner Arbeit vergrub, die Betreuung der Kranken in den Slums an den Eisenbahngeleisen übernahm und sie vor den Quacksalbern rettete, die ihnen Pfefferwasser einspritzten und glaubten, gebratene Spinnen könnten Blindheit heilen, während er weiterhin seine Pflichten als Universitätsarzt erfüllte; wenn ich mich über die große Liebe hätte auslassen können, die zwischen meinem Großvater und seiner zweiten Tochter, Mumtaz, entstand, deren dunkle Haut zwischen ihr und der Zuneigung ihrer Mutter stand, deren Gabe der Sanftheit, Anteilnahme und Zartheit sie jedoch ihrem Vater mit seinen inneren Qualen, die nach ihrer Art bedingungsloser Zärtlichkeit schrien, lieb machten; warum, wenn ich mich auch dafür hätte entscheiden können, das mittlerweile
ständige Jucken in seiner Nase zu beschreiben, ziehe ich es vor, mich in Exkrementen zu suhlen? Weil Aadam Aziz sich an jenem Nachmittag, nachdem er einen Totenschein unterschrieben hatte, an diesem stillen Ort befand, als plötzlich eine Stimme – leise, feige, verlegen, die Stimme eines Dichters ohne Reime – aus der Tiefe der großen alten Wäschetruhe in der Ecke des Raumes zu ihm sprach und ihm einen so großen Schrecken versetzte, dass er sich als abführend erwies und die Klistierspritze nicht von ihrem Haken abgenommen werden musste. Raschid der Rikschajunge hatte Nadir Khan durch den Dienstboteneingang in den Donnerbalkenraum geführt, und er hatte Zuflucht in der Wäschetruhe gesucht. Während der erstaunte Schließmuskel meines Großvaters sich entspannte, vernahmen seine Ohren eine Bitte um Asyl, eine Bitte, die von Bettlaken, schmutziger Unterwäsche, alten Hemden und der Verlegenheit des Sprechers gedämpft war. Und so beschloss Aadam Aziz, Nadir Khan zu verstecken.
Nun kommt der Duft eines Streits, denn Ehrwürdige Mutter denkt an ihre Töchter, die einundzwanzigjährige Alia, die schwarze Mumtaz, die neunzehn ist, und die hübsche, unbeständige Emerald, die noch keine fünfzehn ist, aber einen Blick hat, der älter ist als alles, was ihre Schwestern besitzen. In der Stadt sind die drei Schwestern unter Spucknapf-Zielern und Rikschabesitzern, den Schiebern von Karren mit Filmplakaten und Hochschulstudenten gleichermaßen als die «Teen Batti», die drei hellen Lichter, bekannt ... und wie kann Ehrwürdige Mutter zulassen, dass ein fremder Mann unter einem Dach mit Alias Ernsthaftigkeit, Mumtaz’ schwarzer, glänzender Haut und Emeralds Augen wohnt ...? «Du bist nicht bei Sinnen, Mann, dieser Tod hat deinen Verstand getrübt. »Aber Aziz bestimmt: «Er bleibt.» In den Kellergewölben ... weil eine Versteckmöglichkeit in Indien schon immer von entscheidender architektonischer Bedeutung war, hat das Haus der Aziz’ ausgedehnte unterirdische Gemächer, die nur durch Falltüren im Boden erreicht werden können, die mit Teppichen und Matten bedeckt
sind ... hört Nadir Khan das dumpfe Grollen des Streits und fürchtet um sein Leben. Mein Gott (ich erschnüffle die Gedanken des Dichters mit den feuchten Händen), die Welt ist wahnsinnig geworden ... sind wir denn noch
Weitere Kostenlose Bücher