Mitternachtskinder
bewusst – wie die Lider genau über die Augäpfel passten, wie sich die geschwungenen oberen und unteren Wimpern berührten, wenn ich blinzelte, und wie mühelos mein Blick über James neben mir glitt. Um uns herum war immer noch das Nichts, aber James war mit mir hier, und sein rotes Sweatshirt glühte wie ein Sonnenuntergang.
Ich nahm die Hand, die er mir hinhielt, und spürte körniges Salz zwischen unseren Handflächen. Was ich von seinen Armen sehen konnte, war von einer Gänsehaut bedeckt.
»Du siehst deinen Tod«, fuhr die Stimme fort, und ich erkannte den gewaltigen gehörnten König, der im Nichts vor mir erschien. »Und sie sieht ihren. Was siehst du, James Antioch Morgan?«
Neben mir wandte James den Kopf hierhin und dorthin, als gäbe es mehr zu entdecken als das Nichts. »Das ist ein Garten. Alle Blumen sind weiß und grün. Alles ist weiß und grün. Da ist Musik. Ich glaube … ich glaube, sie kommt aus dem Boden. Oder vielleicht von den Blumen.«
»Was siehst du,
Amhrán-Liath-na-Méine?
«, fragte Cernunnos mich mit noch tieferer Stimme als zuvor.
Ich zuckte zusammen. »Woher kennt Ihr meinen Namen?«
»Ich kenne die Namen aller Geschöpfe, die mein Reich passieren«, antwortete der Dornenkönig. »Doch deinen kenne ich, weil ich ihn dir gegeben habe, Tochter.«
James’ Hand umklammerte meine fester oder vielleicht ich seine. Ich schoss zurück: »Ich bin niemandes Tochter.« Aber vielleicht war ich das doch. Vor ein paar Stunden hätte ich auch noch behauptet, niemandes Schwester zu sein.
»Was siehst du,
Amhrán-Liath-na-Méine?
«, wiederholte der Dornenkönig.
»Bäume«, log ich. »Große Bäume.«
Cernunnos trat näher. Er war ein dunkler Umriss im dunklen Nichts und nur deshalb sichtbar, weil er etwas war und das Nichts nicht.
»Was siehst du,
Amhrán-Liath-na-Méine
?«, fragte er zum dritten Mal.
Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Er war zu groß, als dass ich ihm ins Gesicht schauen konnte, und das ängstigte mich beinahe so sehr wie meine Antwort. »Nichts«, flüsterte ich. Und ich wusste, dass ich genau das bekommen würde, wenn ich starb, weil ich keine Seele hatte.
Die Leere verschluckte mein Wort, so dass ich schon zweifelte, ob ich es ausgesprochen hatte.
»Das Nichts hat seine angenehmen Seiten«, erklärte Cernunnnos schließlich. Sein Geweih ragte über ihm in die Schwärze. Eine Schwärze, die so schwarz war, dass ich mich nach Sternen sehnte. »Du brauchst keine Konsequenzen zu bedenken. Du hast ewiges Leben. Der ungezügelte Genuss liegt dir zu Füßen, wenn er schön für dich klingt. Das Nichts ist ein kleiner Preis für ein solches Leben, wenn du am Ende den Kopf auf den kalten Boden legst.«
Mehrmals drückte James meine Finger. Er versuchte mir etwas zu sagen. Cernunnos neigte den Kopf zu mir herab. Auch er versuchte mir etwas zu sagen, wollte mich dazu bringen, dass ich etwas Bestimmtes sagte, aber ich verstand nicht, was. Ich war nicht daran gewöhnt, dass Worte so wichtig waren.
»Ja«, meinte ich schließlich. »Und außerdem gibt es eine Menge Feen, die mich verhöhnen. Ich hinterlasse einen Haufen Leichen – alle aufgezehrt davon, mir Leben zu schenken. Und was mache ich damit? Ich benutze dieses Leben dazu, noch
mehr
Körpern das Leben auszusaugen. Bis ich selbst erschöpft bin und verbrenne, und dann fange ich wieder von vorn an.« Ich hörte mich undankbar an. Aber ich
war
auch undankbar.
Cernunnos faltete die Hände, die überhaupt nicht tierisch wirkten. Sie waren faltig und kräftig und gespenstisch weiß. »Ich bin es, der dir dieses Dasein geschenkt hat, Tochter. Es ist mein vergiftetes Blut in deinem, das dich alle Dutzend und vier Jahre zum Herbstfeuer treibt. Mein Blut bedeutet, dass du nur ein halbes Leben besitzt und den Rest bei jenen stehlen musst, die Seelen haben, indem du ihren Atem gegen deine Inspiration tauschst. Ich dachte, du würdest Freude haben an den vielen Jahren der Hemmungslosigkeit, des Tanzes und der Bewunderung. Ich wollte nicht, dass dir dieses Leben Kummer bereitet, doch das hat es offenbar.«
»Meine Schwester«, sagte ich, und Bitterkeit machte meine Stimme scharf. »Hat sie Freude an einem solchen Leben?«
»Das hatte sie«, antwortete Cernunnos. »Sie ist tot.« Er machte eine seltsame Geste und hielt James die Handfläche hin. James zuckte zusammen, als hätte er in den Linien auf der Hand des Dornenkönigs etwas gesehen.
»Das Mädchen aus meinem Traum«, murmelte James. »Die Fee, die mit dem
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