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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Eisenstab ermordet wurde. Ich dachte, das sei Nuala … Ich dachte, ich sehe ihre Zukunft.«
    »Wie ich, so siehst auch du Zukunft und Vergangenheit.« Der gehörnte König wandte den Kopf und blickte ins Nichts, als hätte jemand nach ihm gerufen. »Sie sollte dieses Jahr nicht sterben. Ich werde Rache nehmen, ich selbst, von da, wo ich bin.«
    Er war furchteinflößend, als er das sagte. Ich hörte nur die unleugbare Wahrheit seiner Worte und fühlte einen Anflug von Mitleid mit demjenigen, der meine Schwester getötet hatte.
    In der Stille zwischen uns zerrte das Nichts an mir und drohte, mich meines Körpers wieder zu berauben. Ich schauderte und dachte an die Schwester, die ich nie kennengelernt hatte. Jetzt war sie nichts – als hätte es sie nie gegeben. Was bedeutete, dass jeder, der für sie sein Leben gegeben hatte, umsonst gestorben war. Plötzlich wurde mir in dieser Dunkelheit bewusst, dass ich mich jetzt vielleicht menschlich
fühlte,
es aber nicht war. Ich erkannte mit unverhoffter, drängender Klarheit, dass ich immer noch eine Fee war, die nur langsam ihre besonderen Fähigkeiten verlor, indem sie menschliche Speisen aß. Dennoch würde es für mich so enden, in dieser unfasslichen Leere.
    »Ich will nicht nichts sein«, flehte ich auf einmal. Ich wusste selbst nicht, ob ich mit James oder Cernunnos sprach.
    »Was willst du dann,
Amhrán-Liath-na-Méine?
« Und als Cernunnos diesmal fragte, wurde mir klar, was er vorher von mir zu hören erwartet hatte. Die Worte lagen mir schon auf der Zunge und warteten nur darauf, ausgesprochen zu werden. Doch ehe ich das tat, blitzten Erinnerungen vor meinem inneren Auge auf. Ich lag im Wasser, vollkommen unsichtbar, absolut sicher. Ich flog auf den Gedanken von Menschen durch die Luft, leicht und frei. Ich gab einer Leinwand nur einen Wink mit der Hand, um jeden Film zu sehen, den ich wollte. Die Schönheit der Melodie, die ich in James zum Leben erweckt hatte. Die Sicherheit ewiger Jugend. All die Freuden des Feendaseins, die ich besaß.
    »Ich will menschlich sein«, sagte ich.
    Cernunnos streckte die Arme zu beiden Seiten aus, und Licht sickerte grün und weiß zwischen seinen Fingern hervor, tropfte wie Blut ins Nichts. Die Farben wurden intensiver und stiegen immer höher um uns, bis wir in einem Garten standen. Das Dämmerlicht nahm eine grünliche Färbung an, denn es fiel zwischen Blättern auf uns herab, die so groß waren wie mein ganzer Körper. Schwere weiße Blüten, geformt wie Trompeten, hingen an den Pflanzen, die uns am nächsten waren. Blasse weiße Lilien neigten die Köpfe und boten dem Himmel ihre Kehlen dar. Ich fand, dass sie hungrig aussahen.
    »Du kannst wählen«, sagte Cernunnos. »Wenn du verbrennst, kannst du dich dafür entscheiden, als Mensch wiedergeboren zu werden. Ich habe deiner Schwester ein solches Angebot gemacht, doch sie hat verächtlich abgelehnt. Ich habe in deine Zukunft geschaut und gesehen, dass du dasselbe tun würdest.«
    »Bestimmt nicht«, widersprach ich. »Was Ihr gesehen habt, war nicht die Wahrheit.«
    Langsam schritt der gehörnte König auf James zu. James blickte ihm mit erhobenem Haupt und ohne Angst entgegen. Ich war erschrocken über die Faszination in James’ Gesicht. Auch James stand vor einer unausgesprochenen Entscheidung. »Das war vor dem Pfeifer. Pfeifer, wisse, dass Menschen, die mein Reich verlassen wollen, es nicht können.«
    James zuckte nicht mit der Wimper. Er hob die freie linke Hand, so dass Cernunnos sehen konnte, was darauf geschrieben war. Ein Wort, das nicht abgewaschen oder neu hinzugefügt worden war. Da stand
Herbstfeuer
. »Aber ich werde gehen. Nicht wahr?«
    Er klang ein wenig enttäuscht.
    Cernunnos betrachtete James, und mir gefiel sein Gesichtsausdruck nicht: taxierend und hungrig.
    James fuhr fort: »Das wisst Ihr so gut wie ich. Weil ich an Halloween bei ihr sein werde. Ich weiß, dass Ihr nicht fühlt wie ein Mensch, nicht so wie ich, aber ich weiß, dass Nuala Euch nicht gleichgültig ist. Ihr wollt sie das gewiss nicht allein durchmachen lassen.«
    Das Geweih drehte sich leicht zur Seite. »Du fürchtest mich nicht, Pfeifer. Es ist dir gleich, ob du mein Reich wieder verlässt. Und deshalb wirst du es verlassen.«
    James wandte sich von uns beiden ab. Da mir nun sowohl seine Gedanken als auch seine Miene verborgen waren, erschien er mir sehr fern. Seine Hand lag kalt und still in meiner. Im Lauf der vergangenen paar Tage hatte ich vergessen, dass ich ihm begegnet

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