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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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»Pfeifer, ich würde nicht mit dir sprechen, wenn du nicht derjenige wärst, der dringend gebraucht wird.«
    »Ich brauche … ich brauche noch einen Moment«, verlangte ich. Ich wandte mich wieder dem Feuer zu. Nuala war auf die Knie gefallen, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, Haar und Fingerspitzen waren schwarz, und ihre Schultern bebten. Es war nicht fair. Sollte sie nicht ohnmächtig werden? Gab es für sie kein Erbarmen?
    »Amhrán-Liath-na-Méine«,
sagte ich. Nuala schüttelte es so heftig, dass ich es sehen konnte.
»Amhrán-Liath-na-Méine.«
Sie krümmte die gebrochenen Finger vor dem Gesicht.
»Amhrán-Liath-na-Méine.«
Ich flüsterte ihren Namen noch viermal, und jedes Mal schrie Nuala auf, qualvoll und grauenhaft.
    Und hinter mir ertönte ein weiterer Schrei, der wie ein Echo von Nualas Kreischen und ebenso schmerzerfüllt wirkte. Dees Stimme. Ich musste mich entscheiden.
    Mein Kopf wusste, dass ich versuchen musste, Dee zu retten. Sie war die Wichtigere von beiden. Selbst wenn sie nicht Dee gewesen wäre – sie war mächtig und konnte die Feen noch mächtiger machen. Es gab keinen Zweifel daran, dass Eleanor mir deshalb gesagt hatte, wie ich Nualas Gedächtnis retten konnte. Weil sie darauf setzte, dass ich bei Nuala bleiben und sie von Anfang bis Ende brennen sehen würde, statt mich in das einzumischen, was sie da hinten taten.
    Und sie hatte recht. Ich wollte Nuala. Gott, wie ich Nuala wollte. Meine Gefühle für Dee kamen mir dagegen wie eine lächerliche Verliebtheit vor. Aber um Nuala zu bekommen, musste ich bleiben, bis der letzte Rest von ihr verschwunden war. Und dann würde es für Dee zu spät sein.
    Sollte ich Nuala retten oder die ganze Welt?
    Wenn ich doch nur mich allein unglücklich machen würde, nicht mich
und
Nuala.
    Am schlimmsten war, dass ich Nuala zuletzt dabei sah, wie sie die Hände vom Gesicht sinken ließ. Gerade rechtzeitig, um zu erkennen, dass ich sie im Stich ließ.

[home]
    James
    I m Film haben sie einen Plan. Sie wissen, dass sie kaum eine Chance haben, aber sie wissen auch, wo sie hingehen. Sie haben große Waffen mit jeder Menge Munition, und sie haben einen wahnwitzigen Plan, der Kampfsport und einen Hightechflaschenzug beinhaltet. Im wahren Leben hat man ein widerlich flaues Gefühl im Magen, eine Menge Adrenalin im Körper und eine eher vage Vorstellung davon, wie der ganze Mist abläuft. Und das Universum lacht dazu und sagt:
Na dann los, Mann.
    Das wahre Leben war beschissen.
    Der Grüne am Rand des Feuerscheins hatte sich in Richtung Brigid Hall umgeschaut, also rannte ich dorthin. Worte drängten sich in meinen Kopf und bettelten darum, auf meine Hände geschrieben zu werden –
Feuer
und
Verrat
und
zurück zu ihr –
, aber ich schob sie beiseite und versuchte, mich auf die keuchenden Atemzüge zu konzentrieren, mit denen ich die kalte Nachtluft einsog.
    Ich fand Sullivan an dem Feuer, das sie auf dem Parkplatz neben der Yancey Hall aufgeschichtet hatten. Beim orangeroten Licht der Flammen band er kleine Zweige mit rotem Band zusammen. Funken stoben in unsere Richtung. »James. Ich dachte, du wärst bei …« Er verstummte, und meine ewige Dankbarkeit war ihm sicher.
    Ich war völlig außer Atem. »Ich … Sie … müssen … sofort … mitkommen.«
    Er fragte nicht, warum. »Wohin?«
    Ich japste. »Brigid. Irgendwas passiert in der Brigid Hall.«
    »Die Brigid Hall ist leer.« Sullivan wies dorthin. Die Fenster waren dunkel, das Gebäude lag außerhalb des Feuerscheins. Es sah hinter seiner zotteligen, ungemähten Wiese noch schäbiger und trübsinniger aus als sonst. »Sie wird zu Halloween immer abgeschlossen.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe es von einem grünen Männchen erfahren. Wissen Sie, ob die einen König der Toten
erschaffen
können?«
    Einen Moment lang starrte Sullivan mich verständnislos an, dann sagte er: »Gehen wir.«
    Er drückte mir die Zweige in die Hand und rannte los, so dass sein Umhang hinter ihm herflatterte. Ich lief ihm nach. Meine Schritte hämmerten erst auf das Gehwegpflaster, dann auf den herbstlich trockenen, gemähten Rasen, als wir die Feuer hinter uns ließen. Ich spürte genau die Sekunde, in der wir über den Rand des Lichtscheins hinausrannten. Die Luft um uns wurde eiskalt, und der Boden schien von uns abzurücken.
    »Das ist ein Schutz, lass es nicht fallen!«, rief Sullivan mir zu, und ich begriff, dass er das Bündel Zweige meinte. »Schnell!«
    Ich raste über die ungemähte Wiese. Dicht

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