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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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rief:
Wachset, erhebet euch, folget mir,
und seine Schreckgestalten flohen ihm voran oder schleppten sich hinter ihm her. So grausig die unseligen Toten auch sein mochten, die im Licht des Herbstfeuers kaum zu erkennen waren: Schlimmer war das Gefühl kalter Gewissheit, das mir immer schwerer im Magen lag. Alle Feuer brannten nun. Die Toten wandelten. Meine Knie waren steif durchgedrückt, damit meine schwachen Beine nicht zitterten. Mir blieb nicht mehr viel Zeit.
    »Paul!«, rief Sullivan ganz in der Nähe. »Paul, du musst mir sagen, wer heute Abend auf der Liste steht! Hat sie sich verändert? Komm her! Schnell!«
    Paul, den Cernunnos’ Lied anscheinend gelähmt hatte, zuckte zusammen. Er wechselte einen Blick mit James und drängte sich an einer Gruppe grüngekleideter Tänzer vorbei (zu groß und zu schlank, um Schüler zu sein), um zu Sullivan zu gelangen.
    Meine Knie wollten nachgeben, mir war schwindelig. Ich wollte James nicht sagen, dass die Zeit gekommen war. Es auszusprechen würde es wirklich machen.
    »Izzy«, sagte James und packte mich ungeschickt unter den Achseln, ehe ich überhaupt merkte, dass ich fiel. Etwas sanfter ließ er mich zu Boden gleiten.
    Wie dämlich von mir. Ich hätte früher gehen sollen. Ich war eben doch nur ein Feigling. Meine Lider waren so schwer. Ich musste den Kopf nach hinten neigen, um James anzusehen. »Ich liebe es, wenn du mich so nennst.«
    Kummervoll schloss James die Augen. »Jetzt werd bloß nicht sentimental. Ich stehe das nur durch, weil du so knallhart bist.«
    »Leg dir mal etwas Mut zu«, erwiderte ich, und er lachte schwach. »Hilf mir hoch.«
    Er zerrte an meinen Armen, aber meine Knie gaben wieder nach. Niemand schien uns zu beachten, alle waren bezaubert und betört von den Feen, die mitten unter ihnen tanzten. Das war in Ordnung. Ich konnte es mir nicht leisten, von irgendeinem wohlmeinenden Zuschauer aus dem Feuer gezogen zu werden.
    »Diesen Mut wirst du auch brauchen«, sagte ich, »denn ich fürchte, du wirst mich tragen müssen.«
    Ich sah, wie sich seine Kehle bewegte, als er lautlos schluckte. Unbeholfen hob er mich hoch, hatte einen Arm unter meine Knie geschoben und den anderen unter meiner Achsel hindurch um mich gelegt. Ich hielt mich fest und widerstand der Versuchung, das Gesicht in seinen Pulli zu drücken. Es wäre schön gewesen, seinen Geruch nach Dudelsack, Leder und Seife mitzunehmen, aber im Moment stank er sowieso nur nach Cernunnos. Ich würde also allein gehen müssen.
    James trug mich schweigend um das große Feuer herum. Die Flammen schlugen jetzt zwölf, fünfzehn Meter hoch und hatten eine giftig aussehende Farbe, weil darin gerade irgendwelche Polstermöbel brannten. Auf dieser Seite, die den Schulgebäuden abgewandt war, waren wir allein. Nur wir und die gähnende Dunkelheit der Hügel jenseits des Feuerscheins.
    Selbst aus gut sechs Metern Entfernung fühlte sich die Hitze in meinem Gesicht sengend an. James kniete sich nicht hin, sondern sackte mit mir zu Boden und hielt mich auf einmal umklammert.
    »Nuala«, sagte er. »Ich habe ein schreckliches Gefühl bei dieser Sache.«
    Meine Brust platzte fast vor Anstrengung, mein Herz weiterschlagen zu lassen. »Es gibt keinen anderen Weg«, flüsterte ich. »Hilf mir auf.«
    »Du kannst nicht stehen.«
    Es war furchtbar wichtig, dass ich aus eigener Kraft ins Feuer ging. Ich wusste nicht, ob das ein
echter
Grund war oder ich es aus Prinzip so wollte, doch ich hatte das sichere Gefühl, dass ich es selbst tun musste. »Bring mich ganz nah ran, dann hilf mir aufzustehen.«
    Er trug mich ein paar Schritte näher ans Feuer heran und blieb stehen.
    »Jetzt sag mir meinen Namen noch einmal vor«, murmelte ich. »Damit ich sicher sein kann, dass du es nicht vermasselst und ich dich nicht vergessen werde.«
    James flüsterte ihn mir ins Ohr. Perfekt. Vorsichtig ließ er mich auf die Füße herab, und ich stand.
    Es blieb keine Zeit mehr für irgendetwas anderes. Keine Zeit, die Hand den weißen Flammen entgegenzustrecken und mich an den Gedanken zu gewöhnen. Keine Zeit, mich darum zu sorgen, ob er hier bei mir bleiben oder fortgehen würde, um Dee zu suchen. Keine Zeit, mich zu fragen, ob die Sache mit meinem Namen wirklich funktionieren würde. Keine Zeit, daran zu denken, dass es wirklich wie Sterben sein würde, falls es mit meinem Namen nicht klappte. Denn das Mädchen, das dann von den Flammen einen neuen Körper bekäme, würde nicht ich sein. Nicht mehr.
    Ich hätte James sagen

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