Mitternachtskinder
mit goldener Musik. Es war, als ginge mir ein Lied durch den Kopf, das aber eine Farbe hatte und das ich schmecken und spüren konnte. Holzrauch und Regenperlen an Eichenblättern und schimmernde goldene Fäden erstickten mich fast. Das Gefühl erinnerte mich daran, dass ich Dee wollte, dass ich ein besserer Dudelsackspieler sein wollte, dass ich … einfach wollte.
»Hey, James. Wach auf.« Pauls Stimme nahm das Gewicht der Musik von mir und befreite meine Brust. Ich konnte wieder atmen. »Es ist zwanzig vor acht.«
Ich tat einen tiefen Atemzug, und die Luft war beruhigend gewöhnlich: Sie roch leicht nach ungewaschener Wäsche, schalen Chips und altem Parkett. Den Geruch von Chips hatte ich vorher nie richtig zu schätzen gewusst – so menschlich. Ich klammerte mich an das Menschliche um mich herum, mein Rettungsboot in einem Meer aus Musik. Pauls Worte erschienen mir äußerst unwichtig.
»Neunzehn vor acht«, sagte Paul. Der Satz wurde vom Geräusch eines Reißverschlusses begleitet. Sein Rucksack vielleicht. Es drängte mich noch weiter aus meiner Traumwelt heraus, und ich bemühte mich, nicht ärgerlich auf Paul zu sein. »Bist du wach?«
Ich war wach. Ich brauchte nur sehr lange, um mich aus dem Schlaf mühsam hochzuziehen. Als ich meine Stimme ausprobierte, stellte ich ein wenig überrascht fest, dass sie funktionierte. »Es ist vollkommen undenkbar, dass es zwanzig vor acht sein soll. Was ist denn mit dem Wecker?«
»Der hat vor einer Viertelstunde geklingelt. Ich habe sogar auf die Schlummertaste gedrückt. Du hast dich immer noch nicht gerührt.«
»Ich war tot«, erklärte ich und setzte mich auf. Laken und Decke waren feucht von Schweiß. »Tote rühren sich nicht. Bist du sicher, dass der Wecker geklingelt hat?«
Jetzt bemerkte ich, dass Paul vollständig angezogen war. Er hatte sogar Zeit gehabt, sich das schwarze Haar mit Wasser zurückzukämmen, so dass er aussah wie ein Mafioso. »
Mich
hat er jedenfalls geweckt.« Er musterte mich mit runden Augen hinter der Brille. »Bist du krank?«
»Krank im Kopf, mein Freund.« Ich stieg aus dem Bett. Es fühlte sich an, als müsste ich mich von feinen Spinnennetzen aus Träumen losreißen. Zwar war ich wach, doch mein Bett roch beunruhigenderweise wie Nualas Atem – nach Herbst, Regen und Sehnsucht. Oder vielleicht roch
ich
so, meine Haut. Dieser Gedanke war geradezu unangenehm. Ich riss mich zusammen und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf Paul. »Aber nicht krank im herkömmlichen Sinne, fürchte ich. Meinst du, ich kann so zum Unterricht gehen?« Ich wies auf mein T-Shirt und die Boxershorts.
»Mann, nicht mal
ich
will dich so sehen. Kommst du mit frühstücken? Du musst dich beeilen.«
Auf dem Boden suchte ich nach einem halbwegs sauberen Paar Jeans, während Paul sich an der Tür herumdrückte – offenbar wollte er nicht ohne mich gehen. Ich schlüpfte in irgendwelche Klamotten und verstrubbelte mir das plattgedrückte Haar. »Ja, ich komme. Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages, lieber Paul. Die würde ich um nichts in der Welt versäumen. Denkst du, es wird irgendwem auffallen, dass ich die Hose gestern schon getragen habe?« Paul antwortete nicht, denn er hatte die Frage klugerweise als rhetorisch erkannt. »Ich bin fertig. Gehen wir – Moment.«
Ich kniete mich hin und zog meinen Seesack unter dem Bett hervor. Während ich darin herumkramte, kam ich mir vor, als beantwortete ich eine Prüfungsfrage.
Kreuzen Sie die richtige Antwort an: Was in James’ Seesack wird ihm helfen, eine übernatürliche Gefahr mit einem ausgesprochen knackigen Po abzuwehren?
eine Uhr, die nicht richtig geht
ein Roman – irgendein Science-Fiction-Thriller mit grässlichem Cover –, den seine Mutter ihm mitgegeben hat, weil ihr nicht klar war, dass James in jeder wachen Minute etwas lesen muss, das irgendein Lehrer ihm in die zitternden Finger gedrückt hat
eine Handvoll Müsliriegel als Notration für den Fall eines atomaren Weltkriegs mit darauffolgender Nahrungsmittelknappheit
ein eiserner Armreif, der ihm im Sommer einen Scheißdreck geholfen hat, bei anderen Leuten aber gut zu funktionieren schien.
Meine Finger schlossen sich um den Armreif – er war dünn, uneben und hatte knubbelige Kugeln an beiden Enden. Ich holte ihn heraus. Wortlos sah Paul zu, wie ich den Armreif um mein Handgelenk legte und zurechtrückte.
Es hatte Wochen gedauert, bis die Verfärbung, die das Ding an meinem Handgelenk hinterlassen hatte, endlich
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