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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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verschwunden war. Mit dem Eisen an meiner Haut fühlte ich mich jedoch besser. Geschützt, unbesiegbar.
    Ich war seit jeher ein Ass im Lügen, sogar wenn ich mich selbst belog.
    Ich drückte die Kugeln zusammen, bis sie mir in die Haut kniffen. »Jetzt können wir gehen.«
    Das Frühstück war so wie immer. Ein Haufen Musikstreber, die sich zu früh am Morgen im Speisesaal versammelten. Aber wer auch immer diesen Speisesaal entworfen hatte, war clever gewesen: Hohe Fenster an der Ostseite reichten vom Boden bis zur Decke. Die Morgensonne durchflutete den Raum und beleuchtete die verkratzten hölzernen Tischplatten und die verblassten Wandmalereien. Zu jeder anderen Tageszeit wirkte der Saal gewöhnlich, fast ein wenig schäbig. Doch in der Frühe, im ersten Tageslicht, war er die reinste Kathedrale.
    Die gedämpften Unterhaltungen wurden zum Großteil übertönt von Löffeln, die in Müslischalen klapperten, und Gabeln, die auf dem Weg durch schlabberiges Rührei über Teller kratzten. Ich rührte in meinen Frühstücksflocken herum, bis ich Brei in der Schüssel hatte, denn ich hatte noch den Geschmack der Musik aus meinem Traum im Mund.
    »James, kann ich dich kurz sprechen? Wenn du mit dem Essen fertig bist?«
    Das war Sullivans Stimme. Die meisten Lehrer, die auf dem Schulgelände wohnten, aßen später in ihrem separaten Esszimmer und nicht zusammen mit uns Zirkusäffchen. Aber Sullivan frühstückte oft mit den Schülern. Da er die erste Stunde hatte, musste er ohnehin um Viertel nach Morgengrauen da sein. Und mit wem hätte er schon frühstücken sollen, wenn nicht mit uns?
    »Ich halte gerade Hof«, erklärte ich ihm.
    Über den Rand seiner Müslischale hinweg musterte Sullivan meine Tischgenossen. Die üblichen Verdächtigen: Megan, Eric, Wesley und Paul. Praktisch jeder außer der Person, die ich dabeihaben wollte. Konnte sie nicht einmal mehr an einem Tisch mit mir sitzen? Sullivan sagte zu den anderen: »Kann der Hofstaat James wohl einen Augenblick entbehren?«
    »Hat er Ärger?« Megan hatte irgendetwas über britische Schimpfwörter geschwafelt, doch sie hielt inne, um uns zu beobachten.
    »Nicht mehr als gewöhnlich.« Sullivan wartete die Antwort nicht ab. Er nahm meine Müslischale und ging damit zu einem leeren Tisch, als sei er ganz sicher, dass ich meinem Frühstück folgen würde.
    »Anscheinend wünscht eine Autoritätsperson meine Gesellschaft.« Ich zuckte mit den Schultern. Die anderen würden mich bestimmt nicht vermissen, denn ich war heute sowieso wenig unterhaltsam. »Wir sehen uns im Unterricht.«
    Damit ging ich zu Sullivan hinüber und setzte mich ihm gegenüber. Da ich nicht vorhatte, meine breiigen Frühstücksflocken zu essen, beobachtete ich ihn dabei, wie er sorgfältig die Nüsse aus seinem Müsli pickte. Er hatte sehr lange Finger mit knubbeligen Gelenken. Überhaupt war er ein sehr langer Mensch mit einem zerknautschten Äußeren, als hätte man ihn in den Wäschetrockner gesteckt und gleich angezogen, ohne ihn zu bügeln. Aus dieser Nähe konnte ich erkennen, dass er noch ziemlich jung war. Höchstens Anfang dreißig.
    »Ich habe von der Sache mit deinem Dudelsacklehrer gehört«, meinte Sullivan. Der säuberliche Haufen Nüsse auf seiner Serviette geriet ins Rutschen, als er eine weitere hinzufügte. »Oder sollte ich sagen, deinem ehemaligen Dudelsacklehrer?« Er zog eine Braue hoch, blickte aber nicht von seiner gewissenhaften Nusssuche auf.
    »Das trifft es eher«, stimmte ich zu.
    »Und, wie gefällt es dir an der Thornking-Ash?« Endlich führte er einen Löffel voll Müsli zum Mund und begann zu essen. Selbst von meinem Platz aus konnte ich das Knirschen hören – es war keine Milch in seiner Schüssel.
    »Besser als die chinesische Wasserfolter.« Aus irgendeinem Grund blieb mein Blick an der Hand hängen, in der er den Löffel hielt. An einem seiner knochigen Finger steckte ein breiter metallener Ring, in den etwas eingeritzt war. Hässlich und stumpf, wie der Reif an meinem Handgelenk.
    Sullivan fing meinen Blick auf. Seiner huschte zu meinem Handgelenk und dann zu seinem eigenen Ring. »Möchtest du ihn dir näher ansehen?« Nachdem er sein Besteck weggelegt hatte, begann er, an dem Ring zu drehen und ihn über einen Fingerknöchel zu ziehen.
    Eine kränkliche, ungewisse Melodie erklang in meinen Ohren. Vor mir fiel Sullivan zu Boden, stemmte sich dann auf Hände und Knie hoch und erbrach Blumen und Blut.
    Einen Moment lang kniff ich die Augen zu und öffnete sie

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