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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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eigenen Gebäude, der Chance Hall, untergebracht und kamen mir vor wie Ausnüchterungszellen. Sie waren winzig, quadratisch und gerade groß genug für ein Klavier und zwei Notenständer, und sie mieften nach tausend Jahren Körpergeruch. Ich warf einen verächtlichen Blick auf die Notenständer – Pfeifer prägen sich alles ein – und stellte meinen Dudelsackkoffer neben die Klavierbank. Dann holte ich meine Übungspfeife heraus und setzte mich, wobei die Bank ein furzendes Geräusch machte.
    Meine Klavierstunde war erst in ein paar Tagen. Ich war jedoch noch nie in den Übungsräumen gewesen und wollte mir vor dem Freitagstermin ansehen, wie es hier war.
    Das Zimmer war alles andere als inspirierend. Eine Übungspfeife hat von vornherein keinen schönen Klang – am ehesten denkt man dabei an eine strangulierte Gans –, und ich rechnete nicht damit, dass die erbärmliche Akustik dieses Raumes ihn verbessern würde.
    Ich betrachtete die Tür. Sie hatte einen von diesen kleinen Riegeln am Türschloss, so dass man sich einsperren konnte – vermutlich, damit nicht dauernd jemand hereinplatzte, während man übte. Spontan kam mir der Gedanke, dass die Übungsräume wunderbar für einen Selbstmord geeignet wären. Alle würden einfach annehmen, dass man da drin war und übte, bis man irgendwann zu riechen begann.
    Ich verriegelte die Tür.
    Dann setzte ich mich ganz ans Ende der Bank und hob die Übungspfeife an die Lippen. Mit dem Spielen wollte ich nicht so recht anfangen, weil mir das Stück aus meinem Traum immer noch im Hinterkopf herumspukte. Ich fürchtete, es könnte mir ungebeten aus den Fingerspitzen fließen, wenn ich jetzt spielte. Und es würde phantastisch sein. Das Lied flehte mich aus meinem Gedächtnis an, es zu spielen und zu entdecken, wie wunderschön es klingen würde, wenn ich es in die Freiheit entließ. Aber ich hatte Angst, dass ich, wenn ich diesem Drang nachgab, ja zu etwas sagte, das ich nicht wollte.
    Ich überlegte hin und her, mit dem Rücken zur Tür. Ich weiß nicht, wie lange ich reglos dagesessen hatte, als ich ein Zupfen im Kopf spürte, ein Kribbeln von irgendetwas. Ich sah zu, wie sich eine Gänsehaut auf meinen Armen ausbreitete. Und ich wusste, dass irgendetwas bei mir in diesem Raum war, obwohl die Tür kein Geräusch gemacht und ich auch keine Schritte gehört hatte.
    Tief und lautlos holte ich Luft und fragte mich, ob es schlimmer wäre, nachzusehen oder es nicht zu wissen. Ich drehte mich um.
    Die Tür war zu. Immer noch verriegelt. Mir war eiskalt, und mein sechster Sinn schrie mir zu:
Hier stimmt was nicht, du bist nicht allein!
Abergläubisch berührte ich den eisernen Reif an meinem Handgelenk, und diese Bewegung verlieh mir neue Konzentration. Dicht bei mir – sehr nah – roch ich etwas Seltsames, wie Ozon. Wie der Geruch nach einem Blitzschlag.
    »Nuala?«, riet ich.
    Ich bekam keine Antwort, spürte aber eine Berührung, einen leichten Druck an Rücken und Schultern. Nach ein paar Sekunden fühlte ich mehr als Druck: Das war Wärme, Schulterblätter an meinen Schulterblättern, Rippen an meinen Rippen, Haar an meinem Nacken. Nuala – wenn sie es denn war – sagte nichts, sondern saß nur still hinter mir auf der Klavierbank, den Rücken an meinen gelehnt. Meine Haut kribbelte, die Gänsehaut legte sich, und dann prickelte es wieder, als könnte sich meine Haut nicht an ihre Gegenwart gewöhnen.
    »Ich trage Eisen«, sagte ich – sehr leise.
    Der Körper an meinem Rücken rührte sich nicht. Ich bildete mir ein, das sachte Klopfen eines Herzschlags spüren zu können. »Das habe ich bemerkt.«
    Ganz langsam und durch die Zähne ließ ich die Luft in meiner Lunge wieder ausströmen. Ich war erleichtert, denn das war Nualas Stimme. Ja, Nuala war übel – aber ein unbekanntes Wesen, das sich von hinten an mich lehnte und in meinem Rhythmus atmete, wäre noch schlimmer gewesen.
    »Das ist sehr unbequem«, meinte ich und nahm dabei intensiv wahr, wie sich beim Sprechen meine Brust spannte und eine ganz leichte Reibung meines Rückens an ihrem verursachte. Das Gefühl war grauenerregend und sinnlich zugleich. »Das Eisen, meine ich. Anscheinend sind die ungemütlichen Umstände ganz umsonst gewesen. Dabei habe ich es nur für dich angelegt.«
    »Sollte ich jetzt geschmeichelt sein?«, fragte Nuala spöttisch. »Es laufen viel schlimmere Wesen als ich da draußen herum.«
    »Tröstlicher Gedanke. Wie schlimm
bist
du eigentlich, wo wir gerade beim Thema

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