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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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wieder. Noch immer zerrte Sullivan an dem Ring.
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, lieber nicht. Bitte lassen Sie ihn an.«
    Die Worte waren heraus, ehe ich darüber nachdenken konnte, ob sie sich normal anhörten. Im Nachhinein fand ich, dass ich mich wie ein Irrer angehört hatte, aber Sullivan schien das nicht aufzufallen. Jedenfalls behielt er den Ring an.
    »Tja, du bist jedenfalls kein Idiot«, gab Sullivan zurück. »Und du bist nicht dumm. Also weißt du sicher, warum ich dich beiseitegenommen habe. Dies ist eine Musikschule, und du hast praktisch schon mit der Bestnote abgeschlossen, ehe du richtig angefangen hast. Ich habe mir deine Akte angesehen. Eigentlich musst du doch gewusst haben, dass es hier ganz sicher keinen Lehrer auf deinem Niveau geben würde.«
    Wenn ich nicht einmal meiner eigenen Familie eingestanden hatte, warum ich wirklich hergekommen war, würde ich es ganz sicher nicht irgendeinem Lehrer erklären. »Vielleicht bin ich doch ein Idiot.«
    Sullivan schüttelte den Kopf. »Von denen habe ich genug gesehen, um einen zu erkennen.«
    Am liebsten hätte ich gegrinst. Sullivan war in Ordnung.
    »Schön, gehen wir davon aus, dass ich kein Idiot bin.« Ich schob meine Müslischale aus dem Weg und stützte mich auf die Unterarme. »Gehen wir davon aus, dass ich nicht vorhatte, hier den Obi-Wan des Dudelsacks zu finden. Und gehen wir der Einfachheit halber außerdem davon aus, dass ich Ihnen nicht sagen werde, warum ich hier bin – einmal angenommen, ich hätte überhaupt einen guten Grund dafür.«
    »Ja, gehen wir davon aus.« Sullivan warf einen Blick auf die Uhr und sah dann wieder mich an. Der Ausdruck seiner Augen hatte eine Intensität, an die ich bei Lehrern nicht gewöhnt war – er war nicht nur einer von den vielen, die sich in der Tretmühle des Erwachsenenlebens abstrampelten. »Ich habe Bill gefragt, was ich seiner Meinung nach mit dir machen sollte.«
    Ich brauchte einen Moment, bis mir einfiel, dass Bill der Dudelsacklehrer war.
    »Er fand, ich sollte dich einfach in Ruhe lassen. Du weißt schon, dich zu den Zeiten allein üben lassen, wenn du normalerweise Unterricht hättest, und es dabei belassen. Aber ich finde, das pervertiert irgendwie die Idee, eine Musikschule zu besuchen. Stimmst du mir da zu?«
    »Es kommt einem schon ein wenig seltsam vor«, gab ich zu. »Ich würde vielleicht nicht so weit gehen, zu behaupten, dass es eine
Perversion
 …«
    Sullivan unterbrach mich. »Deshalb dachte ich mir, wir machen dich mit irgendeinem anderen Instrument bekannt. Keine Flöten oder andere Holzbläser. Das würdest du viel zu schnell lernen. Vielleicht Gitarre oder Klavier. Etwas, bei dem du länger als fünf Minuten brauchst, um es zu beherrschen.«
    »Um ganz offen zu sein«, sagte ich, »spiele ich ein bisschen Gitarre.«
    »Um ganz offen zu sein«, wiederholte Sullivan meine Worte, »ich auch. Am Klavier bin ich allerdings besser. Spielst du das auch?«
    »Ich werde Unterricht von
Ihnen
bekommen?«
    »Die Kurse der echten Klavierlehrer sind schon übervoll mit echten Klavierschülern. Doch ich möchte nicht, dass du deine Zeit hier verschwendest. Deshalb werde ich zwischen den grauenhaften Essays, die ich benoten muss, irgendwo die Zeit finden, um dir Musikstunden zu geben. Und die werden dir dann auf die Musiknote angerechnet. Wenn dir das recht ist.«
    Leute, die ohne erkennbaren Grund nett waren, machten mich immer misstrauisch. Leute, die ohne erkennbaren Grund nett zu
mir
waren, machten mich sogar noch misstrauischer. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass das so eine Art wissenschaftlicher Versuch oder eine Buße ist.«
    »Ja«, erwiderte Sullivan und stand mit seiner fast leeren Schüssel Kaninchenfutter auf. »Du erfüllst meine ›Studenten helfen, die mich an mich selbst erinnern, als ich noch jung und dumm war‹-Quote. Danke. Ich würde gern diese Woche anfangen, aber da ist ja der Ausflug nach Washington D.C., also sehen wir uns nächsten Freitag um fünf in einem der Übungsräume. Ach, und wenn es für dein Wohlbefinden nicht unbedingt notwendig ist, kannst du dein Ego gern in deinem Zimmer lassen. Wir werden es nicht brauchen.«
    Freundlich lächelte er mich an und neigte den Kopf wie diese Leute, die nicken, wenn sie sich verabschieden. Die Japaner?
    Ich holte einen Stift aus meiner Tasche und schrieb
Fr 5 Klavier
auf meine Hand, damit ich es nicht vergaß. Andererseits würde ich das wohl ohnehin nicht.
     
    Die Übungsräume waren in einem

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