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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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sind?«
    Nuala machte ein leises Geräusch, als hatte sie etwas sagen wollen und es sich anders überlegt. Das Schweigen hing zwischen uns, dick und hässlich. Schließlich sagte sie: »Ich bin nur gekommen, weil ich dir zuhören wollte.«
    »Du hättest anklopfen sollen. Diese Tür habe ich aus gutem Grund verriegelt.«
    »Du solltest doch gar nicht merken, dass ich da bin. Was bist du eigentlich – ein Seher oder so? Hast du irgendwelche übernatürlichen Kräfte?«
    »Oder so.«
    Nuala rückte von mir ab und wandte sich dem Klavier zu. Der Verlust ihrer Berührung traf mich ins Herz, eine unbestimmte, schmerzhafte Sehnsucht erfüllte meine Brust. »Spiel etwas.«
    »Verdammtes Geschöpf.« Ich rutschte zum Klavier herum, so dass ich sie sehen konnte, und schüttelte den Kopf, um mich von der Qual zu lösen. »Du bist schwierig.«
    Sie beugte sich vor, tief über die Tasten, um mein Gesicht zu betrachten, während ich sprach. Dabei fiel ihr das Haar vor die Augen, und sie musste sich die zotteligen hellen Strähnen hinters Ohr streichen. »Dieses Gefühl bedeutet nur, dass du mehr sein möchtest, als du bist. Es bedeutet, du hättest
ja
statt
nein
sagen sollen.«
    Sicher wollte sie mich mit diesen Worten überreden, doch sie hatten die gegenteilige Wirkung. »Wenn ich es in diesem Leben zu irgendetwas bringe, dann liegt das allein an mir. Geschummelt wird nicht.«
    Nuala zog hinter ihren Sommersprossen eine hässliche Fratze. »Du bist wirklich undankbar. Du hast das Lied, zu dem ich dir verholfen habe, noch nicht einmal
ausprobiert
. Das hat nichts mit Schummeln zu tun. Du hättest es irgendwann selbst geschrieben. Wenn du so etwa dreitausend Jahre alt werden könntest.«
    »Ich sage nicht ja«, erklärte ich.
    »Ich habe das nicht im Tausch gegen ein Ja getan«, fuhr Nuala mich an. »Ich habe es dir geschenkt, um dir zu zeigen, was wir zusammen erreichen könnten. Als dein verdammtes vierwöchiges Probeabo. Kannst du diese Chance einfach nutzen? Nein, natürlich nicht! Denn du musst alles hinterfragen und zu Tode analysieren. Manchmal hasse ich euch alle, ihr dummen Menschen.«
    Ihr Zorn ließ meinen Kopf schmerzen. »Nuala, bitte. Halt mal einen Moment lang den Mund. Du machst mir grässliche Kopfschmerzen.«
    »Sag mir nicht, dass ich den Mund halten soll«, erwiderte sie, tat es aber.
    »Bitte fass das jetzt nicht falsch auf«, sagte ich, »aber ich traue dir nicht so recht.«
    Ich legte meine Übungspfeife weg – sie kam mir vor wie eine Waffe, die Nuala gegen mich benutzen konnte – und legte die Finger stattdessen auf die kühlen Klaviertasten. Im Gegensatz zu der Pfeife, die mir vertraut war und die voll vielfältiger Möglichkeiten steckte, waren die glatten Tasten bedeutungslos und unschuldig. Ich sah Nuala an, die einfach schwieg. Ihr Blick wirkte so falsch, war so blendend nichtmenschlich – aber sie hatte recht. Als ich ihr in die Augen sah, schaute ich mich selbst daraus an. Ein Ich, das mehr wollte, als ich war. Ein Ich, das ahnte, wie viel Genialität da draußen zu finden war, die ich sonst nicht einmal ansatzweise entdecken würde.
    Vorsichtig stieg Nuala von der Bank, damit die nicht furzend knarrte. Unter meinem Ellbogen hindurch schob sie sich zwischen mich und das Klavier, bis sie in meinen Armen wie in einem Käfig saß. Sie presste sich gegen mich, so dass ich auf der Bank zurückweichen musste und sie auf der Kante Platz fand. Dann griff sie nach meinen Händen, die stümperhaft auf den Klaviertasten ruhten.
    Sie legte die Finger auf meine. »Ich kann kein einziges Instrument spielen.«
    Es war seltsam intim, dass sie so im Rahmen meiner Arme saß, den Körper genau an meinen angepasst, die langen Finger präzise auf meinen. Ich hätte einen Lungenflügel darum gegeben, so mit Dee dazusitzen. »Wie meinst du das?«
    Nuala drehte den Kopf gerade so weit, dass ich deutlich ihren Atem riechen konnte, der ganz nach Sommer und Verheißung duftete. »Ich kann selbst nichts spielen. Ich kann nur anderen helfen. Und wenn mir das beste Lied auf der ganzen Welt einfallen würde – ich könnte es nicht spielen.«
    »Du kannst es körperlich nicht?«
    Sie wandte das Gesicht wieder von mir ab. »Ich kann es einfach nicht. Musik zu machen ist für mich unmöglich.«
    Etwas schnürte mir leicht und unangenehm die Kehle zu. »Zeig es mir.«
    Sie zog eine Hand von meiner und drückte mit dem Zeigefinger eine Taste nieder. Ich sah zu, wie die Taste heruntergedrückt wurde – einmal, zweimal,

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