Mitternachtskinder
fast mit einer Frau zusammenstieß. Rasch drückte ich mich gegen die Wand, und sie wandte den Kopf und hob die Hände mit den rosa lackierten Nägeln wie Klauen. Ich war ganz sicher, dass sie in meine Richtung
schnupperte,
was zu der Art bizarrem Verhalten gehörte, das ich von Feen erwartete, aber nicht von Menschen.
Ich konnte es kaum erwarten, dass dieser merkwürdige Tag endlich ein Ende nahm. Ich entfernte mich wirbelnd aus ihrer Reichweite und gelangte hinaus in den Sommerabend. Draußen versuchte ich, James’ Blick zu vergessen und so zu tun, als hätte mir seine Bitte, nicht wiederzukommen, gar nicht weh getan.
[home]
James
M it dem Wohnheim verband mich eine Art Hassliebe. Es bedeutete Unabhängigkeit: die Freiheit, seinen Krempel auf dem Boden liegen zu lassen und drei Tage hintereinander Oreo-Kekse zum Frühstück zu essen (was keine so gute Idee ist – man hat dann während der ersten Unterrichtsstunden immer schwarze Krümel zwischen den Zähnen). Es bedeutete auch Kameradschaft: Fünfundsiebzig Jungs zusammen in einem Gebäude hieß, dass man keinen Stein schmeißen konnte, ohne einen Musiker zu treffen.
Aber es war außerdem brutal, klaustrophobisch, ermüdend. Es gab keinen Ort, an den man sich zurückziehen, an dem man für sich sein konnte. Keinen Platz, an dem man der sein konnte, der man nur war, wenn einen niemand beobachtete, und wo man der Person entkommen konnte, als die einen die Masse wahrnahm.
An diesem Nachmittag regnete es, was das Allerschlimmste war – niemand war im Unterricht und niemand draußen. Das Wohnheim bebte vor Lärm. Unser Zimmer war voller Menschen.
»Ich will nach Hause«, sagte Eric.
»Du wohnst keine acht Kilometer von hier entfernt. Du hast keinerlei Anspruch auf Heimweh«, entgegnete ich im Multitasking-Betrieb. Ich unterhielt mich mit Paul und Eric, las
Hamlet
und erledigte dabei meine Geometriehausaufgaben. Eric übte sich im Nulltasking: Bäuchlings lag er auf dem Boden und lenkte uns von den Aufgaben ab. Die Hilfslehrer wohnten auf dem Campus und waren auch für die Aufsicht der Schüler verantwortlich. Sich Eric als Autoritätsfigur vorstellen zu wollen war allerdings ein ziemlicher Witz. Er war kein bisschen verantwortungsbewusster als der Rest von uns.
»Zu Hause sind noch Mikrowellen-Makkaroni«, widersprach Eric. »Aber wenn ich die holen will, muss ich erst tanken.«
»Leute wie du haben es verdient, zu verhungern.« Ich blätterte die Seite in
Hamlet
um. »Mikrowellen-Makkaroni sind noch zu gut für Faulpelze wie dich.« Ich vermisste Moms Makkaroniauflauf. Sie rieb ungefähr acht Pfund Käse hinein und legte ein halbes Schwein in Speckstreifen obendrauf. Zwar wusste ich, dass das vermutlich ein durchtriebener Plan war, um meine Arterien schon in meinem jungen Alter der Verkalkung anheimfallen zu lassen. Trotzdem vermisste ich den Auflauf.
»Steht das da drin?«, fragte Paul vom Bett aus. Auch er kämpfte mit
Hamlet
. »Das klingt sehr nach
Hamlet
. Du weißt schon: ›Ihr seid nicht wohl, Mylord, und so weiter, und Ihr seid nichts als ein Faulpelz.‹«
»
Hamlet
ist cool«, meinte Eric.
»Deine Mom ist cool«, erklärte ich. Durch unsere offene Zimmertür sah ich einen Haufen Jungs in Badehosen brüllend den Flur entlangrennen. Ich wollte den Grund dafür gar nicht wissen.
»Mann, warum können die nicht einfach sagen, was sie meinen?«, klagte Paul. Er las eine Passage laut vor. »Was zum Teufel soll das heißen?« Dann fügte er voller Mitgefühl hinzu: »Das Einzige, was ich verstehe, ist das mit ›diesem furchtbaren Gesichte, das wir zweymal gesehen haben‹. Genauso geht es mir, wenn ich meine Schwägerin anschauen muss.«
»Der Teil ist gar nicht übel«, gab ich zurück. »Zumindest merkt man da, was sie eigentlich meinen: ›Horatio sagt, wir hätten Pilze geraucht, aber er wird es sich anders überlegen, wenn er sich selber in die Hose scheißt, weil er den Geist gesehen hat.‹ Das ist nicht wie dieses ›ohne einen andern Beystand als diesen Traum eines eingebildeten Vortheils über uns, sich hat zu Sinne kommen lassen‹-Zeug hier. Ich meine, der labert
ewig,
oder nicht? Da kann man es Ophelia wirklich kaum verdenken, dass sie sich nach fünf Akten von diesem Mist umgebracht hat. Sie wollte nur endlich diese Stimmen nicht mehr hören.«
In Wahrheit wollte
ich
diese Stimmen nicht mehr hören. Die Jungs in Badehosen zogen ihre Bahnen den Flur auf und ab, und im Stockwerk über uns stampfte jemand im Takt unhörbarer Musik
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