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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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fünfmal, zehnmal –, aber nichts geschah. Nur das leise, gedämpfte Geräusch der gedrückten Taste selbst war zu hören. Nuala nahm meine Hand, zog sie zu derselben Taste und drückte meinen Zeigefinger herunter. Der Ton erscholl wie eine Glocke, die verstummte, sobald ich den Finger wieder hob.
    Sie sprach kein Wort. War auch nicht nötig. Die Erinnerung an diesen einzelnen Ton hallte in meinem Kopf nach.
    Nuala flüsterte: »Schenk mir nur ein Lied. Ich werde dir nichts wegnehmen.«
    Ich hätte nein sagen sollen. Wenn ich gewusst hätte, wie furchtbar die Schmerzen später sein würden, hätte ich nein gesagt.
    Vielleicht.
    Stattdessen erwiderte ich nur: »Versprich es. Gib mir dein Wort darauf.«
    »Du hast mein Wort. Ich werde dir nichts wegnehmen.«
    Ich nickte. Dann fiel mir ein, dass sie es ja nicht sehen konnte, doch sie schien es trotzdem zu wissen. Sie legte die Finger auf meine und lehnte sich an mich. Ihr Haar duftete nach Klee. Worauf wartete sie? Darauf, dass ich spielte? Ich konnte aber nicht Klavier spielen, verdammt.
    Nuala deutete auf eine Taste. »Fang da an.«
    Ein wenig umständlich, weil ihr Körper zwischen mir und dem Klavier steckte und ihr
was zum Teufel das auch sein mochte
zwischen mir und meinem Hirn, drückte ich auf die Taste. Am ersten Ton erkannte ich das Lied, das mir durch den Kopf ging, seit ich aufgewacht war. Ungeschickt stolperte ich zum nächsten Ton weiter und traf unterwegs ein paar falsche – das Klavier war wie eine Fremdsprache für mich, die mir nur schwer über die Lippen ging. Dann den nächsten Ton, und nun riet ich schon schneller. Und den nächsten, diesmal war nur ein falscher dazwischen. Den nächsten traf ich beim ersten Versuch. Und dann spielte ich die Melodie, meine andere Hand stimmte ein und fand sich zaghaft in die tiefe Begleitstimme ein, die ich im Kopf hörte.
    Es war zäh, amateurhaft, wunderschön. Und es war
mein
Werk. Es klang nicht wie ein Lied, das ich Nuala gestohlen hatte. Ich erkannte das Stück einer Melodie, an der ich seit Jahren hin und wieder herumprobierte, eine aufsteigende Basssequenz, die ich auf einem Audioslave-Album bewundert hatte, und einen Riff, mit dem ich auf der Gitarre experimentiert hatte. Die Musik war meine, aber intensiviert, konzentriert, poliert.
    Ich hörte zu spielen auf und starrte das Klavier an. Ich konnte nichts sagen, weil ich es so sehr wollte. Was sie mir anbot, wollte ich haben, und das tat weh, weil ich nein sagen musste. Ich kniff die Augen zu.
    »Sag doch etwas«, bat Nuala.
    Ich öffnete die Augen. »Mist. Ich habe Sullivan gesagt, ich könne nicht Klavier spielen.«

[home]
    Nuala
    Der goldene Gesang auf meiner Zunge, zergangen
    Die goldene Zunge schenkt Gesang, verlangend
    Aus Die Goldene Zunge:
Gedichte von Steven Slaughter
    I ch wusste nicht recht, was ich empfand. Das Lied, das James gerade gespielt hatte, schwoll an in meinem Kopf, und es war so schön, dass ich davon wie trunken war. Beinahe hatte ich vergessen, wie herrlich es sich anfühlte, meine Inspirationen lebendig werden zu lassen – auch ohne dass ich James dafür Energie genommen hätte. Plötzlich fand ich es sehr anstrengend, meine menschliche Hülle zu tragen.
    »Ich gehe jetzt«, sagte ich zu James, duckte mich unter seinem Arm hindurch und stand auf.
    Noch immer starrte er mit steifen Schultern auf die Klaviatur hinab.
    »Hast du gehört, was ich gesagt habe?«, fragte ich. »Ich gehe.«
    Endlich blickte James auf, und aus irgendeinem Grund überraschte mich die Feindseligkeit in seinen Augen. »Tu mir einen Gefallen«, erwiderte er. »Komm nicht zurück.«
    Ich sah ihn lange an und dachte ernsthaft daran, ihn zu blenden, um ihn zu bestrafen. Ich wusste, dass das in meiner Macht lag. Ich hatte schon einmal gesehen, wie eine Fee das getan hatte: Sie hatte einem Mann in die Augen gespuckt, als sie gemerkt hatte, dass er sie sehen konnte, während sie die Straße entlanggelaufen war. Das hatte nur eine Sekunde gekostet. Und James sah mir direkt ins Gesicht.
    Doch dann schaute ich in James’ haselnussbraune Augen. Ich stellte mir vor, wie er mit weiten, nutzlosen Pupillen blind in die Welt starrte wie dieser Mann.
    Und ich brachte es nicht fertig.
    Ich wusste nicht, warum.
    Also ging ich einfach. Ich stolperte leicht auf dem Weg hinaus in den Flur und machte mich unsichtbar, ehe ich die Tür hinter mir schloss. Sobald ich aus dem Übungsraum geflüchtet war, hatte ich es so eilig, nach draußen zu kommen, dass ich auf dem Korridor

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