Mitternachtskinder
mit den Füßen. Ein paar Zimmer weiter übte irgendein Idiot auf seiner Geige. Sehr hohe Töne. Grässliche Katzenmusik. Mir tat schon der Kopf weh davon.
Paul stöhnte. »Mann, ich hasse dieses Buch. Dieses Stück. Was auch immer. Warum hat Sullivan uns nicht
Die Früchte des Zorns
oder so zu lesen gegeben, irgendwas in normaler Sprache?«
Ich schüttelte den Kopf und ließ meinen dicken
Hamlet-
Band auf den Boden knallen. Aus dem Stockwerk unter uns war ein dumpfer Ruf zu hören, und ich spürte den Aufprall unter meinen Füßen, als jemand etwas an seine Zimmerdecke warf. »
Hamlet
ist wenigstens kurz. Ich gehe schnell runter in die Lobby. Bin gleich wieder da.«
Als ich das Zimmer verließ, starrte Paul finster in sein Buch und Eric finster zu Boden. Ich ging nach unten. In der Eingangshalle war es immer noch laut – irgendein Idiot, der noch schlechter Klavier spielte als ich, hämmerte auf dem Instrument hier unten herum –, also schob ich die Hintertür auf. An der Rückseite des Wohnheims zog sich eine Art Veranda entlang, ein hoher Vorbau mit mächtigen cremeweißen Säulen. Es regnete in Strömen, aber nicht so heftig, dass die Tropfen bis unter dieses Dach geweht wurden.
Eiskalt war es. Ich zog mir die Ärmel über die Hände und hielt sie zwischen den Fingern zu, damit die Kälte nicht hereinkroch. Eine Weile starrte ich zu den Hügeln hinter dem Wohnheim hinüber. Der Regen hatte aus allem die Farben gewaschen, die Tälchen zwischen den Hügeln mit Nebel gefüllt und so den Himmel auf die Erde herabgeholt. Die Landschaft vor mir wirkte urtümlich, ewig und schön, und der Anblick war auf eine Art schmerzlich, dass ich wünschte, ich hätte meinen Dudelsack in den Händen.
Ich fragte mich, ob Nuala mich beobachtete. Ganz in der Nähe, unsichtbar und gefährlich. Am Bibliothekscomputer hatte ich im Internet nach einem stärkeren Schutz gegen Feen gesucht als Eisen – und ich hatte einen gefunden, den ich auf meiner Hand notiert hatte, gleich am Ansatz des kleinen Fingers:
Dornen, Esche, Eiche, Rot.
Dieser Schutz würde leider so lange nur aus nutzlosen Worten bestehen, bis ich herausfand, wie zum Teufel eine Esche aussah.
Ich trat von der Tür weg und ging an das Ende des Vorbaus, an dem die Tropfen nur einen schmalen Streifen des Backsteinbodens dunkel färbten. Mist. Verfluchter Mist. So viel zum Alleinsein.
Eine kleine, dunkle Gestalt hockte mit dem Rücken an der Wand des Wohnheims, hatte die Arme um den Körper geschlungen und eine Kapuze auf dem Kopf. Ich hätte mich einfach umgedreht und wäre wieder reingegangen. Die Hand vor dem verborgenen Gesicht deutete jedoch auf Tränen hin, und der Umriss der Gestalt ließ vage darauf schließen, dass es sich um ein weibliches Wesen handelte. Das sahen wir hier in Seward, dem Jungenwohnheim, nicht allzu oft.
Das Mädchen blickte nicht auf, als ich näher kam, aber ich erkannte die Schuhe. Zerschrammte Doc Martens. Ich kniete mich neben sie und hob den Rand der Kapuze mit dem Zeigefinger an. Dee sah mich an und ließ die Hand sinken. Ich entdeckte keine Tränen auf ihrem Gesicht, aber deutliche Spuren davon: ihre roten Augen.
»Psycho-Babe«, sagte ich leise, »was machst du denn hier in diesem furchterregenden Land, das man das Jungenwohnheim nennt?«
Dee hob die Finger wieder, als wollte sie eine Träne aufhalten, die ich nicht sehen konnte. Sie rieb das Auge und streckte mir dann den Zeigefinger hin. »Willst du eine Wimper?«
Ich betrachtete die einsame kleine Wimper, die am Rand ihrer Fingerspitze klebte. »Ich habe mal gelesen, dass man nur eine begrenzte Anzahl von Wimpern im Leben hat. Wenn du sie jetzt schon alle ausreißt, hast du später keine mehr.«
Stirnrunzelnd musterte sie das Härchen. »Ich glaube, das hast du dir nur ausgedacht.«
Rücklings lehnte ich mich an die Wand, ließ mich neben ihr nieder und schlang die Arme um die Beine. Der Backsteinboden unter meinem Hintern fühlte sich kalt an. »Wenn ich mir etwas ausdenken würde, dann sicher etwas wesentlich Interessanteres als das. Die haben echt davor gewarnt, weißt du: ›Junge Mädchen reißen sich die Wimpern aus, um Stress abzubauen, und jetzt sind sie potthässlich und kahl.‹ So etwas würde ich mir doch nicht ausdenken.«
»Ich stecke sie wieder rein, wenn du dich dann besser fühlst«, erbot sich Dee. Sie fummelte an ihrem Auge herum, was mich daran erinnerte, wie rot es war. Ich fand es schrecklich, dass sie geweint hatte. »Meine Harfenlehrerin ist ein
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