Mitternachtskinder
Ungeheuer. Wie ist dein Dudelsackmensch?«
»Ich habe ihn getötet und aufgegessen. Zur Strafe zwingen sie mich jetzt, Klavier spielen zu lernen.«
Auf ihre niedlich-besorgte Art zog Dee die Brauen zusammen. »Ich kann mir dich nicht an einem Klavier vorstellen.«
Ich musste an vorhin denken, an Nualas Finger auf meinen und die Klaviertasten darunter. »Und ich kann mir keine Harfenlehrerin als Ungeheuer vorstellen. Ich dachte, ihr Harfenistinnen wäret alle so, ich weiß nicht,
ephemer
.«
»Dreißig-Punkte-Wort.«
»Vierzig, mindestens. Hast du schon mal versucht, das zu buchstabieren?«
Dee schüttelte den Kopf. »Aber sie ist wirklich ein Ungeheuer. Sie sagt ständig, ich solle die Ellbogen rausstrecken, und das will ich nicht. Und dann redet sie endlos davon, dass ich alles ganz falsch mache und offensichtlich von dämlichen Folk-Harfenisten gelernt habe. Was, wenn ich gar nicht klassische Harfe spielen will? Was, wenn ich nur irischen Folk spielen möchte? Ich glaube nicht, dass man die Ellbogen rausstrecken muss, um eine gute Harfenistin zu sein.« Ihr Mund verzog sich schrecklich, sie war den Tränen ganz nah. Aber es war unmöglich, dass so etwas wie eine fiese Lehrerin Dee zum Weinen brachte: Sie war sehr viel stärker, als sie aussah. Es musste irgendetwas anderes sein.
Dee biss sich auf die Unterlippe, als wollte sie ihren Mund zur Ordnung zwingen. »Und in dem dämlichen Wohnheim ist es so grässlich, wenn es regnet, weißt du? Man hat nirgendwo seine Ruhe.«
Ich konnte sie nicht fragen, was wirklich los war. Seltsam – wenn ich so darüber nachdachte, ging mir auf, dass ich das nie gekonnt hatte. Also seufzte ich nur und streckte als Einladung einen Arm über ihren Kopf. Sie zögerte keinen Augenblick, ehe sie näher rückte und die Wange an meine Brust legte. Ich schlang die Arme um ihre Schultern und lehnte meinen Kopf an die Wand. Dee in meinen Armen zu halten gab mir ein warmes Gefühl, greifbar, surreal. Es kam mir vor, als wären tausend Jahre vergangen, seit ich sie zuletzt umarmt hatte.
Ich schloss die Augen und dachte nach. Wenn jetzt jemand herauskam und uns sah, was würde derjenige denken? Dass wir ein Pärchen waren? Dass Dee mich liebte und sich aus ihrem Wohnheim herübergeschlichen hatte, um sich hinter meinem Wohnheim mit mir zu treffen? Oder würde derjenige die Wahrheit erkennen – dass es nichts bedeutete? Ich hatte geglaubt, dass uns etwas Besonderes miteinander verband, dass da etwas zwischen uns war. Bis zu diesem Sommer, bis zu Luke. Aber das war dumm von mir gewesen.
Es brachte mich um, mich so stark zu sehnen. Mich danach zu sehnen, dass dies hier – sie in meinen Armen, ihre Tränen auf meinem T-Shirt – das Gleiche für sie bedeutete wie für mich. Wenn es das hätte, wenn sie wirklich meine Freundin gewesen wäre, hätte ich sie gefragt, warum sie weinte. Warum sie auf der Veranda meines und nicht ihres Wohnheims saß. Ob sie Nuala gesehen hatte. Ob es ihre Schuld war, dass Nuala überhaupt hier war.
Aber ich konnte sie gar nichts fragen. Stattdessen schwieg ich und schloss die Augen.
»Rede«, sagte Dee gedämpft an meinem T-Shirt.
Ich dachte, ich hätte sie falsch verstanden. Ich öffnete die Augen und sah zu, wie die grauen Wolken sich über die Erde ergossen. »Wie bitte?«
»Sag irgendetwas, James. Ich will dich nur reden hören. Sei witzig. Rede einfach.«
Mir war nicht danach zumute, witzig zu sein. »Ich bin immer witzig.«
»Dann sei so wie immer.«
»Warum weinst du?«, wollte ich wissen.
Doch sie antwortete nicht, weil ich die Frage nicht laut ausgesprochen hatte.
In Wahrheit war ich viel zu dankbar dafür, dass sie überhaupt hier war. Da konnte ich unmöglich mein Glück herausfordern, indem ich Fragen stellte, die sie verscheuchen könnten. Also plapperte ich einfach drauflos, erzählte ihr etwas über meine Kurse, über die Schwächen von Paul und über Chips als Wecker. Ich war total locker und witzig, wie sie es sich gewünscht hatte, und während sie zu lachen begann, starb ich vor Sehnsucht.
[home]
Nuala
Fühlte man sich einen Moment lang aufgehoben
Ins wundersame Netz Familie eingeschlagen
Wäre es dann falsch oder gelogen
»Ich lebe hier, dies ist zu Hause« zu sagen?
Aus Die Goldene Zunge:
Gedichte von Steven Slaughter
Z usehen zu müssen, wie James aus dem Wohnheim kam und Dee rettete, versetzte mich in üble Laune. Ich hatte es sehr schnell satt, ihr Geheul zu beobachten, und beschloss, stattdessen ins Kino zu gehen.
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