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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Wenn ich schon ein solches Maß an Melodramatik miterleben musste, dann doch lieber präsentiert von sehr gut bezahlten, schönen Menschen auf einer großen Leinwand. Auf dem Weg zum Kino dachte ich an die zahllosen Dinge, die ich an Dee nicht mochte. Während ich in der Schlange vor dem Kartenverkauf wartete – nicht dass ich unbedingt eine Karte gebraucht hätte –, fragte ich mich, ob sie diese traurigen Mienen vor dem Spiegel geübt hatte. Oder ob sie einfach ein Naturtalent darin war, männliches Mitgefühl zu erheischen. Worin ich nicht sonderlich begabt war.
    Der Knabe an der Kasse sah gelangweilt aus. »Für welchen Film?«
    »Überrasch mich doch«, sagte ich zu ihm und wedelte mit meinen Scheinen.
    Er brauchte einen Moment, um zu kapieren, was ich meinte. »Meinst du das ernst?«
    »Todernst.«
    Er zog die Augenbrauen hoch, gab etwas in den Computer ein und blickte mit einem fiesen Grinsen zu mir auf, das mir die Menschheit im Allgemeinen richtig sympathisch machte. Dann reichte er mir eine Karte, mit der bedruckten Seite nach unten. »Hier nach rechts. Zweiter Saal. Viel Spaß.«
    Ich belohnte ihn mit einem Lächeln und ging den trübe erleuchteten, mit Teppich ausgelegten Flur entlang. Es roch nach Popcornbutter, Teppichreiniger und diesem anderen Etwas, das irgendwie immer Kinos und Theater durchdrang – gespannte Erwartung oder so etwas Ähnliches. In dieser vertrauten Umgebung wandte mein Verstand sich wieder der vorherigen Beschäftigung zu: aufzählen, was ich an Dee hasste.
    Erstens, ihre Augen waren zu groß. Sie sah aus wie ein Alien.
    Ich zählte die Türen, erreichte Saal zwei und widerstand der Versuchung, auf der Anzeige über der Tür nachzusehen, welchen Film der Kassenknabe für mich ausgesucht hatte.
    Zweitens klang ihre Stimme im ersten Moment ganz hübsch, aber sie ging einem ziemlich schnell auf die Nerven. Wenn ich jemanden singen hören wollte, würde ich mir eine CD kaufen.
    Der Kinosaal war still und fast leer – nur zwei oder drei Pärchen. Vielleicht hatte der Junge mich deswegen so unverschämt angegrinst, weil er mich in den letzten Flop geschickt hatte.
    Drittens benutzte sie James dazu, sich besser zu fühlen. Das war eine Eigenart, die ich nur an mir selbst schätzte.
    Ich suchte mir einen Sessel genau in der Mitte und legte die Füße auf die Lehne vor mir. Das war der perfekte Sitzplatz. Wenn irgendjemand hereinkam und sich vor mich setzte, würde ich ihn umbringen.
    Viertens passte sie zu perfekt in James’ Arme. Als wäre sie schon dort gewesen. Als würde sie Anspruch auf ihn erheben.
    Vor mir erwachte die Leinwand mit Trailern zum Leben. Normalerweise hätte ich sie genossen, hätte in den Versprechen auf zukünftige Filme gebadet, aber heute Abend konnte ich mich nicht darauf konzentrieren. Zunächst einmal würde ich nicht mehr hier sein, um mir irgendeinen der Filme anzusehen, die da beworben wurden – sie würden alle um Weihnachten oder nächstes Jahr anlaufen. Und zweitens probte ich im Geiste schon den Dialog für meine nächste Begegnung mit James.
    »Unerwiderte Liebe«, würde ich sagen. Er würde mich auf seine schlaue Art von der Seite ansehen und fragen: »Was ist damit?«, und ich würde antworten: »Sie steht dir einfach nicht.« Kurz und gut. Nur um ihm zu zeigen, dass ich es bemerkt hatte. Aber vielleicht sollte ich mich lieber
ihr
zeigen und sagen: »Ich bin hier wohl nicht die Einzige, die Menschen benutzt.« Und danach würde ich ein paar von Owains Hunden herbeirufen, damit sie ihr die Beine von unten abnagten. Dann würde sie nicht mehr genau richtig in James’ Arme passen, weil sie zu klein wäre. Das wäre so, als umarmte er eine Zwergin.
    Ich grinste im dunklen Kinosaal.
    Der Film begann mit einer grandiosen Rockballade aus den Siebzigern und einer Hubschrauberaufnahme von New York City. Das Gitarrenspiel war genial – ich fragte mich, ob ich etwas damit zu tun gehabt hatte. Es stellte sich schnell heraus, dass der Kassenknabe mich in eine romantische Komödie geschickt hatte. Eigentlich nicht mein Ding, aber zumindest würde sie mich von James ablenken und von dem Lied, das er für mich gespielt hatte. Der Gedanke, dass ich es vielleicht nie wieder laut gespielt hören würde, war unerträglich. Ich war richtig verknallt in dieses Lied.
    Eine halbe Stunde lang versuchte ich, mich von dem Film mitreißen zu lassen, aber es funktionierte nicht. Die Geschichte war niedlich, und sie küssten sich, und die Musik war schön. Und ich

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