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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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wert. Keine Sorge, Liebster, ich lasse nicht zu, dass sie dich in die Finger bekommt. Er ist Dichter.«
    Ich merkte, dass die letzten Worte an mich gerichtet waren, und sah wieder den Menschen an. Ruhig hielt er meinem Blick stand, ohne mich zu verurteilen. Ohne die Missklänge eines Feentanzes um mich herum konnte ich seine Gedanken leichter lesen. Ich stocherte darin vorsichtig nach seinem Namen, traf aber auf entschlossenes Schweigen – er schützte ihn genauso gut wie eine Fee. Vollkommen dämlich war er also nicht, trotz seines zweifelhaften Geschmacks, was Frauen anging.
    »Du bist also auf der Suche nach einem neuen
Freund?
«, fragte Eleanor, und mir wurde klar, dass sie von vornherein Bescheid gewusst hatte. »Ich möchte dich nur bitten, Rücksicht auf meinen Hof zu nehmen, wenn du deinen nächsten … Schüler auswählst, meine Liebe. Es gehen Dinge vor, die keine Einmischung dulden. Dieses Samhain-Fest wird man nicht so schnell vergessen.«
    Ich brauchte einen Augenblick, um mich daran zu erinnern, dass Samhain Halloween war. Mit dem Kinn wies ich auf ihren Begleiter. »Seinetwegen? Wie ich höre, soll jemand zum König gemacht werden.«
    Wahrscheinlich hatte ich zu viel gesagt, konnte es aber nicht mehr zurücknehmen. Außerdem betrachtete Eleanor mich weiterhin, als sei ich eine Kiste voller Hundewelpen. »Es gibt wahrlich keinerlei Geheimnisse unter meinem Volk, nicht wahr?«
    Ihr Gefährte wirkte einen Moment lang, als sei ihm ein wenig übel – vermutlich hätte er seine lose Zunge am liebsten verschluckt.
    Die Königin strich mit den Fingern über seine Hand, als spürte sie seine Furcht. »Ist schon gut, mein Liebling. Niemand denkt schlecht von dir, weil du König sein wirst.« Erneut schaute sie zu mir. »Du wirst deinen Schülern gegenüber selbstverständlich kein Wort darüber verlieren, nicht wahr, kleine Muse? Nur weil das gesamte Feenreich von unseren Plänen weiß, brauchen die Menschen nicht auch davon zu erfahren.«
    »Ich werde schweigen wie die Blumen«, antwortete ich sarkastisch. »Was haben denn die Menschen damit zu tun?«
    Mit schmerzhafter Freude lachte Eleanor auf, und ihr Begleiter taumelte unter diesem Ansturm. »Ach, meine Liebe, ich vergesse immer wieder, wie wenig du doch weißt. Ein Mensch – das Kleeauge – zieht uns hierher an diesen Ort. Wir folgen ihm, wie stets, gegen unseren Willen. Doch nach diesem Samhain-Fest werden wir unseren Weg selbst bestimmen. Und wir werden dadurch noch schöner, noch mächtiger werden.« Sie hielt inne. »Bis auf dich natürlich. Du wirst ewig an sie gebunden sein, armes Ding.«
    Ich sah sie nur voller Abscheu an, hasste entweder sie oder mich selbst.
    Eleanors Lippen kräuselten sich bei meinem Gesichtsausdruck. »Und ich vergesse oft, wie leicht ihr Jungen zum Schmollen neigt. Sag mir, wie viele Sommer hast du gesehen?«
    Ich starrte sie an, denn ich war sicher, dass sie auch diesmal die Antwort kannte und mich nur reizen wollte, um mich zu Tränen und Zorn anzustacheln. In meinem Kopf leckten gierig die Flammen an meiner Haut, zum Gedenken und als Vorahnung zugleich. Es war Jahre her, dass mein Körper zuletzt zu einem Häuflein Kohlen verbrannt war, doch die Erinnerung an den Schmerz verging nie – obgleich alle anderen Erinnerungen verschwunden waren. »Sechzehn.«
    Die neue Königin trat sehr, sehr nah an mich heran, strich mit dem Finger an meinem Hals hinauf und hob mein Kinn an. »Deine Unsterblichkeit ist von sehr seltsamer Art, nicht wahr? Es überrascht mich, dass du dich mir nicht zu Füßen wirfst, um von deinem Schicksal befreit zu werden.«
    Ich konnte ihre Füße unter dem langen grünen Kleid nicht einmal sehen, und selbst wenn – ich konnte mir nicht vorstellen, mich jemals bettelnd davor niederzuwerfen. Mit geballten Fäusten wich ich von ihr und ihrer Berührung zurück. »Ich weiß es besser. Ich kann ihm nicht entgehen. Und ich fürchte mich nicht.«
    Eleanor lächelte dünn und geheimnisvoll. »Und ich dachte immer, mein Volk könne nicht lügen. Du bist wahrhaftig die Menschlichste unter uns.« Sie schüttelte den Kopf. »Vergiss nicht, was ich dir geraten habe, Liebes. Komm unserer Arbeit hier nicht in die Quere, dann finde ich vielleicht sogar die Zeit, deiner Verbrennung dieses Jahr persönlich zuzusehen.«
    Höhnisch lächelte ich sie an. »Eure Anwesenheit wäre eine große Ehre«, spottete ich.
    »Ich weiß«, entgegnete Eleanor, und von einem Atemzug zum nächsten waren sie und ihr Begleiter

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