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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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der Sammlung hinzu. »Wann bekomme ich denn je wieder so eine Gelegenheit? Keine Eltern? Ein kaum überwachtes Wohnheim?«
    »Äh, ich weiß nicht, vielleicht bei diesem kleinen Ausflug, den man College nennt. Soweit ich gehört habe, kommt das für privilegierte weiße Jugendliche wie uns direkt nach der Highschool.« Ich begann, die Kulis wieder zusammenzusetzen, und vermischte dabei die Teile, so dass drei Frankenstifte entstanden.
    »Ich könnte vorher
sterben
. Und dann, ich meine, dann bin ich tot und war nie betrunken? Soll ich etwa als nüchterne Jungfrau an die Himmelspforte klopfen?«
    Das berührte eine Saite in mir. Ich schrieb mit einem der Kulis
geheiligt
auf meinen Handrücken. »Ich glaube, eine Menge Leute würden behaupten, das sei die einzige Möglichkeit, überhaupt an die Himmelspforte zu gelangen. Warum hast du es plötzlich so eilig, dir einen anzusaufen?«
    Paul zuckte mit den Schultern und schaute aus dem Fenster. »Weiß auch nicht.«
    Wenn ich ein verantwortungsbewusster Erwachsener gewesen wäre, hätte ich ihm vermutlich gesagt, dass er sich nicht zu betrinken brauchte, um sich selbst zu verwirklichen oder so. Aber ich war gelangweilt und generell unverantwortlich – ob nun von Natur aus oder aus eigener Entscheidung. Daher sagte ich: »Ich beschaffe dir was.«
    »Was denn?«
    »Bier, Paul. Konzentrier dich. Das ist doch das, was du willst, oder? Alkohol?«
    Pauls Augen wurden hinter der Brille noch runder. »Ist das dein Ernst? Wie …«
    »Psst, zerbrich dir nicht den Kopf über meine geheimnisvollen Methoden. Deshalb bin ich ja
ich
. Hast du schon mal Bier getrunken?« Ich schrieb
Bier
auf die Seite meines Zeigefingers, weil auf dem Handrücken kein Platz mehr war.
    Paul lachte. »Ha. Ha. Ha. Meine Eltern sagen, dass Bier die Seele besudelt.«
    Ich grinste ihn an. Noch besser. Das hier würde wahnsinnig unterhaltsam werden. Die Aussichten waren glänzend.
    »Worüber grinst du, James?« Sullivan, der ein paar Reihen vor uns saß, hatte sich umgedreht und beäugte mich argwöhnisch. »Es sieht irgendwie böse aus.«
    Ich schloss die Lippen, lächelte ihn aber weiterhin an. Ich fragte mich, wie lange er schon zugehört hatte. Nicht dass das eine Rolle spielte. Schließlich konnte ich meine finsteren Pläne weiterverfolgen, ob er nun davon wusste oder nicht.
    Sullivan betrachtete mein etwas gepresstes Lächeln mit hochgezogener Augenbraue. Er musste laut sprechen, um sich über den Lärm des Busses hinweg verständlich zu machen. »Das ist besser, aber immer noch unheilverkündend. Ich werde das Gefühl nicht los, dass du irgendetwas planst, das moralisch nicht ganz einwandfrei ist. So etwas wie die Machtübernahme in einem kleinen lateinamerikanischen Land.«
    Erneut grinste ich ihn an. Von all unseren Lehrern sprach Sullivan am ehesten meine Sprache. »Nicht diese Woche.«
    Mit verzerrtem Gesicht musterte Sullivan Paul und sah dann wieder mich an. »Also, ich hoffe nur, es ist legal.«
    Paul blinzelte hastig, doch ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. »In den meisten Ländern.«
    Sullivan lächelte schief und gequält. »In
diesem
Land?« Er durchschaute mich besser als sonst irgendwer, den ich kannte, was so unpraktisch wie tröstlich war.
    »Verehrter Herr Lehrer, derartige Schlussfolgerungen stellen eine Vergeudung Ihrer Fähigkeiten dar. Haben Sie nicht irgendwelche englischen Gedichte dabei, die Sie dringend lesen sollten?«
    Zunächst schien er seine Befragung fortsetzen zu wollen, zeigte dann aber nur mit dem Finger auf mich. »Ich beobachte Sie, Mr.Morgan.« Er senkte den Zeigefinger in Richtung meiner bekritzelten Hände und sagte: »Notieren Sie sich das, damit Sie es nicht vergessen.« Dann drehte er sich in seinem Sitz wieder nach vorn.
    Aber ich hatte keinen Platz mehr auf der Haut, also ließ ich es sein. Um mich herum wurden die Stimmen der Schüler vor Aufregung immer lauter, als der Bus auf einen riesigen grauen Parkplatz einbog.
    »Was hören wir uns noch mal an?«, fragte Megan von einem Platz irgendwo in Sullivans Nähe.
    »Das Raleigh-Botts-Ensemble«, antwortete er. Schon wieder so ein Doppelname. Ich betrachtete das als böses Omen und beschloss, die Augen nach dem blutigen Regen und den Heuschrecken offen zu halten, die wohl als Nächstes kommen würden. Sullivan fügte hinzu: »Ein ganz hervorragendes Kammerorchester. Sie spielen heute eine breitgefächerte Auswahl an Stücken, über die Mrs.Thieves euch mit Sicherheit noch dieses Jahr prüfen

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