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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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wird.«
    »Allerdings!«, rief Mrs.Thieves von vorne. »Also behaltet ja euer Programmheft!«
    Der Bus hielt, und Sullivan und Mrs.Thieves führten die Busladung Schüler über den Parkplatz auf das Theater zu. Ich sah, wie Sullivans Lippen sich lautlos bewegten, während er die aufgeregt durcheinanderlaufenden Schüler zählte.
    »Sechsundvierzig. Vierunddreißig«, sagte ich ohne großen Enthusiasmus zu ihm.
    »Halt den Mund, James«, entgegnete er freundlich. »Das funktioniert nicht.«
    Durch irgendeinen magischen Trick von Sullivan und Mrs.Thieves schafften wir es alle in die Lobby. Sie war eiskalt, roch nach Tannen und war mit einem dicken, burgunderroten Teppichboden ausgelegt. Die hölzernen Verkleidungen waren blendend weiß und mit eingeschnitzten Schnörkeln verziert. Eine weitere Gruppe ging bereits den Flur entlang. College-Studenten. Neben denen sahen wir aus wie Babys. Die College-Mädchen warfen das Haar zurück und kicherten
hiii hiii hiii
 – sie waren zwei Jahre näher an Minivan, Fußballtraining und Botox als die Mädchen aus meinem Bus. Ich wünschte, ich wäre nicht mitgefahren.
    »Hallo«, sagte Dee. Sie lächelte zu mir auf, ein Mundwinkel ein wenig höher als der andere, und hielt das Notizbuch an die Brust gedrückt. Eine Studie in Rot, Schwarz und Weiß: der Teppich, ihr Haar, ihr Gesicht. »Wollen wir Freunde sein?«
    »Nein, ich finde dich ziemlich unsympathisch«, erwiderte ich.
    Dee grinste und hakte sich bei mir unter. Dann lehnte sie den Kopf an meinen Oberarm. »Gut. Setz dich neben mich. Ist das erlaubt?«
    Sullivan war nicht in der Nähe, um es mir zu verbieten. Ich schob mich durch die Gruppe nach vorn auf den dunklen Saal zu. Niemand würde mehr erkennen, wer wer war, wenn wir erst drinnen waren. Von hier draußen konnte ich sehen, dass nur die kleine Bühne ganz vorn beleuchtet war. »Wir werden es uns erlauben. Wir sind junge, unabhängige Amerikaner. Niemand sagt uns, was wir zu tun und zu lassen haben.«
    »Natürlich.« Dee lachte und kniff mich in den Ellbogen. Ich schluckte, als sie mich berührte.
    In dem kleinen Theatersaal setzten wir uns so weit wie möglich von der College-Gruppe weg. Wir waren umgeben vom Raunen vieler Schüler, die sich in angestrengtem Flüsterton unterhielten. In diesem kleinen Saal war es sogar noch kälter. Dee, die so dicht neben mir saß, und die eisige Temperatur brachten mich aus dem Gleichgewicht. Ich fühlte mich wie abgetrennt von irgendeinem Teil meines Selbst. Dee nahm meine Hand. »Es ist eiskalt hier drin. Deine Hand ist wenigstens warm.«
    Ich neigte den Kopf zu ihr hinüber und flüsterte zurück: »Das Ensemble besteht übrigens aus Pinguinen. Ich habe im Programmheft gelesen, dass sie sich weigern zu spielen, wenn die Temperatur nicht unter zehn Grad liegt. Wenn es wärmer ist, fangen sie an zu schwitzen, und dann finden sie mit ihren Flossen keinen Halt mehr an den Saiten.«
    Dee lachte und schlug sich dann schuldbewusst die andere Hand vor den Mund. »James«, zischte sie, »lass das, sonst schreit Thieves mich wieder an. Sie kann
grässlich
sein.«
    Ich hielte ihre Hand fest und wärmte ihre Finger mit meinen. »Das sind wahrscheinlich die Wechseljahre. Nimm es nicht persönlich.«
    »Das würde mich nicht überraschen. Warum dauert das denn so lange?« Dee reckte den Hals, als könnte sie den Grund für die Verzögerung in der Dunkelheit um uns herum entdecken. »Im Ernst, wir werden noch alle erfrieren, ehe das Konzert überhaupt anfängt. Vielleicht hast du recht mit den Pinguinen. Die brauchen wahrscheinlich ewig, um sich warm zu spielen.« Sie schnaubte. »Ha, kapiert? Warm spielen?«
    »Du bist eine geniale Komikerin.«
    Sie gab mir mit der Hand, die ich nicht festhielt, einen leichten Klaps auf den Arm. »Halt den Mund. Ich bin damit zufrieden, dass du der Witzbold bist.«
    Da wurde das Licht vorn heller, und die wenigen Lampen im übrigen Raum erloschen. Das Gemurmel der Schüler verstummte. Das Ensemble marschierte herein, und die Musiker, nur acht Leute, nahmen ihre Plätze auf der Bühne ein.
    Neben mir unterdrückte Dee gerade noch ein Kichern. Ich beugte mich zu ihr hinüber; sie biss sich auf den Fingerknöchel, um nicht laut zu lachen. Hilflos flüsterte sie:
»Pinguine.«
    Die Musiker traten sehr elegant im Smoking auf, und alle hatten sich das schwarze Haar glatt zurückgekämmt. Die Ähnlichkeit mit Pinguinen war nicht zu leugnen. Dees Kichern verstummte jedoch, als sie zu spielen begannen. Ich weiß nicht

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